Die Erbin
Masajew.
»Wie konnte das passieren?!« Pujatkins Stimme konnte sanft und väterlich sein; jetzt klang sie vulkanisch. »Wer hat da geschlafen?«
»Ich werde sofort einen Bericht anfordern, Genosse Oberst. Aber wie ich die Dinge sehe, konnte niemand ahnen, daß Lyda Penopoulos ausgerechnet mit einem Rennfahrer … Hier steht es ja: Alle waren überrascht, überrumpelt, stehen vor einem Rätsel. Einen Tag zuvor kannten sie sich noch nicht … Wer rechnet denn auch damit, daß innerhalb einer Nacht ein Mädchen wie Lyda ihr ganzes bisheriges Leben verleugnet?«
»Ja! Wer rechnet damit?! Sie hätten damit rechnen müssen!« Rumm! Der Schreibtisch zitterte. »Masajew, wir wissen doch alle nur zu gut, wie die Familienverhältnisse bei den Penopoulos' beschaffen sind! Wir haben uns darauf eingestellt, immer das große Ziel vor Augen. Lyda war unser größter Trumpf – und jetzt?! Verschwindet mit einem Rennfahrer! Ihre Leute haben geschlafen, Masajew. Oder sie vertragen das fette Leben im Westen nicht. Man sollte sie abberufen und neu in die Mangel nehmen!« Pujatkin faltete die Hände vor der Brust. Masajew überlegte, wie er möglichst schnell das Zimmer verlassen konnte.
»Worüber denken Sie nach?« fragte Pujatkin zielsicher.
»Ich werde den Genossen Okoschkin nach Monte Carlo schicken.«
»Was soll denn der an der Riviera?«
»Lyda aufspüren. Wenn wir wissen, wo sie sich versteckt, können wir vielleicht den Gang der Dinge in unserem Sinne beeinflussen.«
»Glauben Sie, sie hat eine Visitenkarte mit der neuen Anschrift hinterlassen? Wenn ihr mich sucht – ich bin in der Südsee?«
»Jérome Marcel kann nicht einfach untertauchen.«
»Ach! Und warum nicht?«
»Er hat seine Rennverpflichtungen einzuhalten.«
»Auf die pfeift er jetzt! Mit einer Milliarde im Rücken.«
»Der alte Stavros wird Lyda sofort enterben.«
»Das hat er schon mehrmals angedroht. Und was ist daraus geworden? Große Versöhnung mit Tränen, Papilein hier und Papilein dort und ein Sack voller Geschenke! Nikita Alexejewitsch, der Alte hängt viel zu sehr an seinen Kindern, als daß er sie enterben würde. Gut, er kümmert sich wenig um sie, aber wenn er sie sieht, glänzt sein Gesicht, und er bekommt Kuhaugen! Wie ich den Stavros kenne, wird er auch den Rennfahrer akzeptieren, wenn seine Lyda mit ihm glücklich wird!« Pujatkin wippte mit seinem Schreibtischsessel, ein Zeichen nachlassenden Zorns. Masajew atmete auf. Nichts ist für einen Russen gefährlicher, als beim KGB einen Haken hinter seinem Namen zu bekommen.
»Kennen Sie Marcel?« fragte Pujatkin. »Kann sie mit ihm glücklich werden?«
»Bisher lebte Marcel nur für seine Rennwagen. Affären hier und da, die üblichen langbeinigen und langmähnigen Girls in den Boxen …«
»Girls!« sagte Pujatkin angewidert. »Masajew, wie sprechen Sie denn! Das klingt ja entsetzlich dekadent!«
»Von ernsthaften Liebesaffären habe ich noch nichts gehört. Lyda ist die erste.«
»Ein Wunder? Die zweitgrößte Privat-Handelsflotte!«
»Ich glaube nicht, daß das Jérome Marcel imponiert. Er muß Lyda wirklich lieben, um sich auf ein solches Abenteuer wie Entführung einzulassen.« Masajew war glücklich, das Gespräch auf allgemeinere Bahnen lenken zu können. Er war sich seines Versagens bewußt. In der letzten Zeit war er seiner Sache zu sicher gewesen. Genia – wiederverheiratet in London, Stavros – wiederverheiratet mit Nany Johnes, Perikles in den Händen einer Geliebten, der er sogar treu war, was nachgerade unheimlich war, und Lyda bislang als bunter Schmetterling in der Welt herumschwirrend und überall dort zu Hause, wo der Jet-set sich wohl fühlte. Keinerlei Komplikationen. Alles lief so, wie es Moskau angenehm war: Die Familie Penopoulos befand sich in einem unsichtbaren, aber unaufhaltsamen Auflösungsprozeß. Ein paar Anstöße von außen – dafür war Masajew zuständig – beschleunigten den Verfall. Und nun tauchte dieser Rennfahrer auf. Unbekümmert, stark, impulsreich, von keinem Skandal belastet. Ein leuchtender Sonnengott in Lydas Augen. Ein gefährlicher Mann für die Pläne des KGB.
»Aber trotz dieser großen Liebe«, dozierte Masajew weiter, »wird Marcel nie seine eingegangenen Verpflichtungen vernachlässigen. Dazu ist er zu ehrlich, zu gewissenhaft. Beim nächsten Formel-I-Rennen sehen wir ihn wieder. Und in seiner Nähe muß dann auch Lyda sein – selbst wenn sie keiner dort entdecken sollte. Das ist so sicher, wie Sie einen Zorn auf mich haben!
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