Die Erbin
Sie zum Wagen. Ich weiß, was Sie denken. Ich fasse Sie nicht mehr an. Ich gebe Ihnen nicht einmal mehr die Hand …«
»Jérome …« Sie blieb vor ihm stehen. Ihr Gesicht zuckte, als wolle sie gleich anfangen zu weinen. »Jérome … ich habe Angst …«
»Vor was?«
»Davor, daß – ich Sie liebe …« Sie schloß die Augen. »Jérome … Küß mich richtig …«
Erst gegen Mittag kam Lyda in das Büro der Penopoulos-Linie am Boulevard-sur-mer in Monte Carlo. Die Angestellten, die ihr begegneten, grüßten höflich, aber mit einer Neugier, die allzu deutlich war. Selbst die Sekretärin im Vorzimmer ihres Vaters sagte nicht wie sonst immer: »Ich will anfragen, ob nichts Besonderes vorliegt«, sondern ließ sie gleich die Tür zum Chefbüro aufreißen.
Stavros Penopoulos saß hinter dem breiten englischen Schreibtisch mit der grünen Lederplatte und blickte aus seinen etwas vorquellenden Augen böse auf seine Tochter. Vor ihm lagen keine Akten, sondern einige Zeitungen. Es schien so, als habe er schon lange auf Lyda gewartet.
»Mach die Tür zu!« sagte er laut. Seine Stimme, tief und grollend, duldete keinen Widerspruch. Mit einem Schwung warf Lyda die Tür ins Schloß und kam näher. Stavros musterte finster seine Tochter.
»Was ist das?« schrie er plötzlich. Seine Faust krachte auf die Zeitungen. »Meine Tochter knutscht nachts an einsamen Stränden mit Rennfahrern herum!«
»Nicht im Plural! Ein Rennfahrer. Jérome Marcel …« Sie griff nach den Zeitungen. Auf den Titelseiten überall die Fotos: Lyda mit Marcel beim Tanz. Marcel küßt Lyda die Hand. Lyda und Marcel Arm in Arm. Und dann – aus Nizza – der Höhepunkt: Felsenküste, Leuchttürme. Marcel kniet vor Lyda, sie umklammert seinen Kopf und küßt ihn weltvergessen. Ein Bild voll romantischer Innigkeit. Darunter der Text: Die Lovestory des Jahres – Lyda Penopoulos und Jérome Marcel: ein Traumpaar!
Sie schleuderte die Zeitungen auf den Boden und lehnte sich an die Tischkante. »Geschmier!« sagte sie laut.
»Und das Foto?« schrie Stavros. »Etwa eine Fotomontage?! Wenn das so ist, vernichte ich diese Zeitung.«
»Das war kein Kuß.«
»Aha! Was sonst? Wurde der junge Mann vielleicht ohnmächtig und brauchte eine Mund-zu-Mund-Beatmung?! Ich verbiete dir, Lyda, zu …«
»Ich habe ihn erst später richtig geküßt.«
»Richtig …?« Stavros holte tief Atem. Sein Gesicht schwoll an.
»Ich liebe ihn, Papa.«
»Einen Rennfahrer? Einen Mann, der nur Gas geben kann, sonst nichts! Was ist er denn? Was hat er gelernt? Wo kommt er her?«
»Nicht aus den Slums von New York. Und er hat auch keine Schuhe auf der 6. Straße geputzt …«
Stavros Penopoulos zog den Kopf zwischen die Schultern. Jeder hatte es in den letzten zwanzig Jahren vermieden, ihn auf seine Herkunft anzusprechen oder sie auch nur anzudeuten. Nicht, daß er sie verleugnen wollte. Im Gegenteil, er war stolz darauf, als kleiner, rotziger griechischer Auswanderer angefangen zu haben und jetzt den Welthandel mitzubestimmen. Er hatte der Welt gezeigt, was in ihm steckte und was er konnte. Aber man sollte es ihm nicht mehr vorhalten. Die Vergangenheit hatte er verschüttet, sie war ein schönes Grab, auf das er ab und zu einen Blumenstrauß legte. Aber er hatte keine Lust, auch jetzt noch den Geruch von Zwiebelgemüse mit sich herumzutragen. An die Vergangenheit zu erinnern, war einzig und allein seine Sache. Anderen gestand er es nicht zu.
»Du fliegst sofort nach London zu deiner Mutter!« entschied er.
»Nein!« sagte sie trotzig und überlaut.
»Die Tickets sind nebenan.«
»Nagele sie an die Wand!«
»Wie sprichst du mit mir?« Die dicke Faust krachte wieder auf die Tischplatte. »Ist das Rennfahrer-Jargon?«
»Ich fahre in zwei Tagen mit Jérome nach Indianapolis zum Training. Ich werde an der Box seine Zeiten stoppen. Wer will mich daran hindern?«
»Ich!« brüllte Stavros, hochrot im Gesicht. »Ich!«
»Und wie? Willst du mich festbinden?«
»So ähnlich, allerdings!«
»Dann versuche es!«
»Ich enterbe dich!«
»Schon wieder?! – Ich brauche dein Geld nicht!«
»Willst du Schuhe in der 6. Straße putzen? Oder willst du in der Bronx auf den Strich gehen?«
Sie beugte sich vor, weit über den Tisch, und blickte ihrem Vater in das wutverzerrte Gesicht. »Wenn du nicht mein Vater wärst«, sagte sie langsam und betont, »hätte ich jetzt einen Aschenbecher genommen und ihn dir über den Kopf geschlagen! Du hast es verdient!« Und plötzlich schrie auch
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