Die Erbin
meine Tochter!«
»Wir werden bald wissen, wo sie sind«, sagte der Vizedirektor. »Dafür sind beide zu bekannt. Ich würde vorschlagen, keinen Kommentar herauszugeben. Dann wird der Skandal zu einem modernen Märchen. Das Mitleid der Öffentlichkeit wird Ihnen gelten, Sir.«
»Darauf scheiße ich!« sagte Stavros unflätig. »Ich will meine Tochter wiederhaben. Mir ist es total gleichgültig, wie Sie das anstellen. Aber Sie müssen sie wieder herbeischaffen!«
In den nächsten Tagen hatten die Zeitungen keine Titelblattnot. Lyda und Jérome Marcel sorgten für gute Berichte. Fast alle Schlagzeilen lauteten gleich:
Die Romanze des Jahrhunderts. Lyda Penopoulos und Jérome Marcel auf der Flucht in ihre Liebe. Wo verstecken sie sich? Wo liegt ihr Liebesparadies?
Moskau ist kein Ort, wo man moderne Märchen als Morgenlektüre zum Frühstück mit Kaffee, Tee, Brötchen und Honig liest und sich darüber freut, daß auch in der Milliardärsfamilie Penopoulos nicht alles so glatt verläuft, wie man eigentlich annehmen sollte. Auch ein Dollarberg allein scheint nicht glücklich zu machen. Lyda, das reichste Mädchen der Welt, brach aus ihrem goldenen Käfig aus und brannte mit einem Rennfahrer durch. Das war eine Geschichte so recht nach dem Herzen der Massen, auch wenn ihnen diese Glitzerwelt so fern lag. Sie hellte immerhin den grauen Alltag etwas auf, ließ einen, wenn auch nur in der Fantasie, teilhaben am Leben der Großen und erzeugte gelegentlich die tiefste alle Freuden: die Schadenfreude.
Im KGB-Gebäude, in der Abteilung II, viertes Stockwerk, dachte man grundlegend anders. Als die ersten Auslandszeitungen zur Auswertung durch die Pressestelle gelaufen waren und die einzelnen Dezernate ihre Ausschnitte bekommen hatten, drückte Oberst Tichon Pawlowitsch Pujatkin auf einen Klingelknopf seiner Telefonanlage. Dann lehnte er sich in dem einfachen Bürosessel zurück, überflog noch einmal die Ausschnitte und stieß mit den Fußspitzen gegen den Schreibtisch. Wer Pujatkin kannte, wurde äußerst vorsichtig, wenn der Genosse Oberst auf diese Weise seinen Arbeitsplatz malträtierte.
Pujatkin legte die Ausschnitte auf den Tisch. Es hatte geklopft. »Ja!« brüllte er laut. »Kommen Sie rein, Masajew!«
Nikita Alexejewitsch Masajew, in seinem Zimmer durch Pujatkins Alarmklingel aufgeschreckt vom morgendlichen Tee, schloß die Tür hinter sich. Er brüllt, dachte er. Er tritt gegen seinen Tisch. Er sitzt da mit einem Gesicht, als habe man ihn mit Galle eingerieben. Die Luft ist dick, Nikita! Dabei ist heute ein so schöner Tag.
»Masajew, haben Sie die Auslandsberichte gelesen?« fragte Pujatkin, noch ziemlich zurückhaltend. Seine Finger trommelten nervös auf die Ausschnitte. Masajew rekapitulierte in Gedanken schnell die Schlagzeilen, die er beim Tee gelesen hatte, und nickte.
»In Bonn läuft wieder eine Aktion gegen die Berliner Mauer«, sagte er und hoffte das Richtige getroffen zu haben. Pujatkin starrte ihn an, als habe sich Masajew vor ihm unsittlich entblößt, und gab seinem Schreibtisch einen harten Tritt. O je, dachte Masajew, das war falsch. Was steht denn noch in diesen verdammten, geschwätzigen westlichen Zeitungen?
»Was ist in Monte Carlo passiert?« fragte Pujatkin dumpf. »Nikita Alexejewitsch, betrachten Sie bei Ihrer morgendlichen Auslandslektüre nur noch die nackten Kapitalistenweiber?«
»Monte Carlo?« fragte Masajew etwas dümmlich zurück. Er überlegte hastig. Was war los in Monte Carlo? Ein Autorennen! Seit wann regt sich Pujatkin über Autorennen auf? Es laufen doch keine sowjetischen Wagen auf den Pisten. Was hätte das auch für einen Sinn, da doch die sowjetische Autoindustrie längst bewiesen hatte, daß es nicht auf Schnelligkeit ankommt, sondern auf Langlebigkeit. Wenn westliche Wagen schon längst verrostet auseinanderfielen, brummten sowjetische Autos noch immer brav über die Straßen: zeitlos, unverwüstlich, gemütlich. Wozu auch die Hetze? In Rußland lag die Zeit herum – man konnte sie in Säcken sammeln. »Hat ein Genosse die Spielbank gesprengt?« witzelte Masajew.
Pujatkin schwieg, sichtlich erschüttert. Dann schob er die Ausschnitte über den Tisch und gab seinem Schreibtisch einen gemeinen Tritt. »Lesen Sie, Nikita Alexejewitsch! Was sagen Sie nun?!«
Masajew überflog die Schlagzeilen, die Pujatkin rot unterstrichen hatte. Die Romanze des Jahrhunderts. Lyda Penopoulos mit Jérome Marcel. Die Reiche und der Weltmeister von morgen …
»O je!« sagte
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