Die Erbin
Rekorde, Übermenschliches, Unmenschliches! Es ist zum Kotzen! – Übrigens Kotzen! Das kitzeln wir gleich aus Ihrer Frau heraus. Nein, keine Magenspülung. Das ist eine Viecherei. Ich habe das immer verabscheut, auch als Arzt. Wo's nicht anders geht – gut! Aber hier machen wir es eleganter. Ich injiziere ein Mittel, das zum Brechen reizt. Dann Herzstütze, Kreislaufstabilisation, von mir aus die gute alte Milch aus Omas Küche – und morgen wird Ihre kleine Frau zwar schlapp, aber lebensfähig in den Kissen liegen.«
»Können Sie Lyda nicht in das Hospital bringen lassen?« fragte Marcel unsicher.
»Warum denn das?«
»Ich muß morgen nach Kapstadt fliegen. Zum Training.«
»Kann man nicht verschieben, was?«
»Nein! Wir müssen die neue Strecke gründlich kennenlernen, wenn wir eine Chance haben wollen.«
Dr. Vennebosch nickte mehrmals, zog die Spritze auf, gab Lyda die Injektion in den rechten Gesäßmuskel und klappte dann seine verchromten Schachteln auf. Spritzen, Ampullen, Alkoholtupfer, Kompressen. »Ich werde mich um Ihre Frau kümmern«, sagte er.
»Das kann ich nicht verlangen, Doktor.«
»Nee, das können Sie auch nicht. Ich tue es freiwillig. Wann fliegen Sie?«
»Morgen mittag. Das ist der einzige Flug.«
»Von Plettenberg-Bay. Natürlich. Ich fürchte, um diese Zeit wird Ihre Frau noch schlafen. Wenn sie dann aufwacht, sitzt ein fremder Mann am Bett. Ist Ihre Frau vielleicht schreckhaft?«
»Nein.«
»Gott sei Dank! Mein Anblick reißt nicht zu Jubeltönen hin.« Dr. Vennebosch injizierte das Kreislaufmittel. Fast gleichzeitig begann Lyda zu würgen. Dr. Vennebosch hob ihren Oberkörper hoch, stützte ihn an seiner Brust und hielt Lyda fest. »Jetzt brauch ich eine Schüssel.« Marcel rannte in die Küche, riß eine Plastikschüssel vom Haken und stürmte ins Schlafzimmer zurück. Dr. Vennebosch hielt sie unter Lydas Kinn und plauderte munter weiter.
»Nun mal zurück zum Ehekrach! Wieso will sich Ihre Frau umbringen, wenn Sie Rennen fahren? Daran ist sie doch gewöhnt.«
»Sie will nicht, daß ich noch fahre. Sie hat mich angefleht, damit aufzuhören.«
»Ein liebes, kluges Frauchen. Wieviel Tote hat es bei Rennen schon gegeben?«
»Wieviel sterben täglich auf den Straßen?«
»Stimmt! Die Technik macht aus uns potentielle Selbstmörder und Mörder. Ein Samstag auf deutschen Autobahnen – haben Sie das schon mal erlebt?«
»Nein. Aber ich kenne den Wochenendverkehr in Paris, das genügt.«
»Ich war in Deutschland. Zu Besuch bei meinem Neffen! Wir fuhren über die Autobahn von München nach Salzburg. Ich sage Ihnen: Ich gehe lieber zu Fuß durch die Kalahariwüste, da fühl' ich mich sicher, da komm' ich an! Ob das mit Salzburg gelingt, ist reine Glückssache!«
Während Lyda ihren Magen reinigte und erbärmlich zuckte und stöhnte, während Marcel ihren Kopf festhielt und ihr in den Würgepausen den Mund mit einem nassen Lappen abwischte, machte sich Dr. Vennebosch Gedanken über die Ehe Jérome Marcels.
»Wie wird das weitergehen mit Ihnen?« fragte er. »Sie fahren Rennen – Ihre Frau ist dagegen. Zwei grundverschiedene Standpunkte, die nie zusammenkommen können. Wer gibt nach?«
»Ich kann nicht«, sagte Marcel gequält. »Mir fehlen noch zwei, drei Jahre, um finanziell sicher zu sein.«
»Aber Ihre Frau hat Angst. Angst um Sie! Weil sie Sie liebt!«
»Ich weiß es. Ich liebe sie auch. Aber sie muß doch einsehen …«
»Wie soll eine Frau, wenn sie solche Angst hat, sich ausgerechnet mit dem abfinden, was diese Angst verursacht?«
Das Würgen hatte aufgehört. Marcel nahm die Schüssel weg, Dr. Vennebosch legte Lyda auf das Kissen zurück und deckte sie zu. Er fühlte nochmals ihren Puls und hörte den Herzschlag ab. Bleich, wie eingefallen, lag sie mit geschlossenen Augen und schlief nach dem kräfteraubenden Erbrechen weiter.
»Ich glaube, ich gebe ihr einen Tropf!« sagte Dr. Vennebosch. »Ich hole ihn gleich von drüben. Meiner Ansicht nach hat sie zehn Tabletten geschluckt.«
»Das reicht doch …«, stotterte Marcel.
»Kommt auf die Abwehrkraft des Körpers an. Der eine bläst sich damit aus, der andere schnarcht wohlig vierundzwanzig Stunden und sagt: War das ein schöner Schlaf! – Ganz individuell. Ihre Frau hat sich jedenfalls unterschätzt. Zehn Tabletten verkraftet sie gerade noch, so am Rande balancierend.« Er erhob sich von der Bettkante, ging in die Küche, wusch sich die Hände und kam, während er sich abtrocknete, ins Zimmer zurück.
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