Die Erbin
sie, im Gleichschritt gehend, ins Bett. Der Arzt schien das Haus zu kennen; er fragte gar nicht, wo das Schlafzimmer lag. »Erzählen Sie!«
»Ich bin Rennfahrer –«
»Aha! Da hat die alte Genoveva also recht!«
»Wer ist Genoveva?«
»Das Hausmädchen der Porters von Nummer 5. Eine Seele von Mensch. Seit dreißig Jahren bei der Familie. In letzter Zeit weint sie immer, weil sie ›vom Sklavenjoch befreit werden soll‹, wie die afrikanischen Freiheitskämpfer sich ausdrücken. Sie gehört zu den Schwarzen, die sich für ihre weiße Familie vierteilen ließen, wenn es jemand verlangte. Und da sie ihre Augen und Ohren überall hat, erzählt sie mir: Da wohnt jetzt einer, der in diesen rasenden Autos sitzt. Ich hab's vom Briefträger! Und der muß es ja wissen. Mit dem Postgeheimnis nimmt es der gute Moses nicht so genau.«
Sie legten Lyda ganz flach und zogen sie vollends aus. Ihr Körper war schlaff und regungslos. Die Muskeln hatten sich entkrampft und entspannt. Unter dem schwarzen Haar glänzte bleich ihr Gesicht im Schein der Nachttischlampe.
»Ich hole einen Eimer«, sagte Marcel bedrückt.
»Wozu?«
»Die Magenspülung …«
»Nur Ruhe, mein junger Herr. Ich weiß Ihren Namen nicht …«
»Marcel. Jérome Marcel.«
»Doktor Vennebosch. Harald Vennebosch.« Der Arzt setzte sich auf die Bettkante, griff nach Lydas schlaffem Arm und fühlte den Puls. »Wenn sie alle Tabletten geschluckt hätte, die in dem Gläschen fehlen, wäre sie längst in einem anderen Land. Herzrhythmus und Puls sind zwar kläglich müde, aber das haben wir gleich.« Dr. Vennebosch blickte um sich. »Wo haben Sie geschlafen?«
»Neben meiner Frau natürlich.«
»Wieso natürlich? Nach einem Ehekrach gibt es für Männer viele Möglichkeiten, die Nacht herumzukriegen! Sie besaufen sich im Nebenzimmer oder sie fahren in die nächste Kneipe, oder sie machen sonst irgendeine Dummheit, die beweist, daß ein Mann im Grunde nie erwachsen wird! Sie haben also neben Ihrer Frau geschlafen?«
»Ja.«
»Nun ja, die Drahtseilnerven eines Rennfahrers, da haben wir sie! Und Sie haben nicht gemerkt, daß Ihre Frau Tabletten genommen hat?«
»Nein.«
»Sie haben auch nicht gemerkt, daß sie aufstand, ins Wohnzimmer lief und dann vor dem Kamin zusammenbrach? Vielleicht hatte sie Angst bekommen, wollte in die Küche, die berühmte Gegengift-Milch trinken, und erreichte ihr Ziel nicht mehr. – Das haben Sie alles nicht gehört?! Gab es in Ihrer Ahnenreihe ein Murmeltier?«
»Ich hatte mich betrunken, Doktor …«, sagte Marcel leise. »Ja. Ich hatte mich nach dem Krach vollaufen lassen. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich so viel getrunken, daß ich einfach ins Bett fiel. Daß ich Lyda entdeckte, war reiner Zufall.«
»Sie mußten auf den Lokus!«
»So war's …«
»Na, dann fangen wir mal an!«
Dr. Vennebosch öffnete seine abgewetzte Tasche, holte einige verchromte Kästchen und Döschen heraus und baute sie neben Lydas nacktem Leib auf. Dann nahm er eine gläserne Spritze aus mit Sterilmitteln getränkter Watte und steckte eine lange Nadel auf. Marcel betrachtete die Vorbereitungen mit Sorge. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen.
»Worum ging es dann?« fragte Dr. Vennebosch.
»Kleinigkeiten …«
»Mein lieber Monsieur Marcel, das ist keine Antwort für mich. Sie kennen mich noch nicht, der alte Vennebosch haßt Gemeinplätze. Also, was war los?«
»Ich muß beim Großen Preis von Südafrika fahren.«
»Auf der neuen Strecke in Kapstadt?«
»Ja. Übermorgen beginne ich mit dem Training.«
»Das ist Ihr Beruf. Keiner für mich, ich habe Angst vor diesen röhrenden Ungetümen, sehe auch keinen Sinn darin, mit 200 Kilometern in die Kurven zu gehen, wenn man es mit 60 Kilometern sicherer tun kann. Was heißt hier Rekord? Wem nützt er? Was hat die Menschheit davon, wenn Sie mit Ihrem Wagen auf gerader Strecke 340 Kilometer fahren, oder wenn jemand auf dem Mount Everest steht, Fähnchen schwingt und dann wieder herunterkommt? Und das alles unter größter Lebensgefahr! Ändert sich dadurch die Welt? Werden die Mächtigen der Welt dadurch ein wenig friedlicher? – Also: Warum jagen Sie um Zehntelsekunden über die Rennstrecke?«
»Es ist Sport, Doktor.«
»Blödsinn! Es ist Geschäft! Sie verdienen damit Millionen! Das griechische Sport-Ideal ist längst verwest! Jeder, der heute am besten zuschlagen kann, wird Millionär. Weltmeister. Massen-Idol! Warum? Weil es kaum noch geistige Ideale gibt. Nur noch Nervenkitzel, Gewalt,
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