Die Erbsünde
hatte sie Glück. Philip untersuchte das Karyogramm mit den fotografischen Darstellungen der gepaarten Chromosomen. Alles in Ordnung. Das normale Chromosomenpaar Nummer einundzwanzig war vorhanden, das dritte Chromosom, das die Ursache für den Mongolismus darstellte, Gott sei Dank nicht. Und nicht nur das; man würde Mrs. Edwards auch mitteilen können, daß sie einen Jungen bekam.
Glückliche Mrs. Edwards. Philip unterzeichnete den Bericht und nahm sich die nächste Akte vor.
»Dodman« stand auf dem Deckel. Dieser Fall war schon schwieriger. Philip ließ den Aktendeckel ungeöffnet auf dem Schreibtisch liegen, stand auf und trat ans Fenster. Er kannte den Bericht fast auswendig. Nachdenklich sah er hinunter auf die windige Straße. Aus dem Krankenhaus strömten grüppchenweise die Studenten, ihre weißen Kittel blähten sich im Wind. Unter ihnen war auch der junge Dodman, zweiundzwanzig, im vierten Studienjahr, ein heller Junge, wenn man seinen Professoren glauben durfte. Und für die nächsten zwei bis drei Jahrzehnte hatte er ein furchtbares Schicksal vor sich. Er war von der Huntingtonschen Krankheit bedroht, einer Art Veitstanz. Bergleute aus Cornwall hatten sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeschleppt und weitervererbt. Aus den Vorlesungen über Pathologie und Neurologie kannte Dodman die tückischen Anfangssymptome und den weiteren Verlauf der Krankheit. Die Symptome traten erst im vierten Lebensjahrzehnt auf. Gewöhnlich fing es damit an, daß man sich ungeschickt anstellte. Es folgten verminderte Konzentrationsfähigkeit, beeinträchtigtes Urteilsvermögen, ein wachsender Mangel an Initiative; später kamen dann unfreiwillige krampfhafte Zuckungen dazu, zuerst nur der Arme und des Gesichts, dann des ganzen Körpers. Das Leiden war progressiv und unheilbar und endete mit Lähmung und Wahnsinn. Die durchschnittliche Lebenserwartung, von Beginn der Krankheit an, war fünfzehn Jahre.
Dodman wandte sich an Professor Gleave um Rat, der froh war, den Fall an Philip abschieben zu können. Und nun konnte er sich damit herumschlagen.
Was konnte er dem jungen Mann sagen? Es war unmöglich, festzustellen, ob Dodman das Gen geerbt hatte, das ihn in zwanzig Jahren blind und irre machen würde. Hingegen konnte er ihm sehr genau sagen, daß er – auch wenn er selbst die Krankheit nicht bekam – riskierte, sie an seine Kinder weiterzuvererben.
Wie sollte er ihm raten? Heiraten Sie, wenn es sein muß, aber seien Sie auf ein kurzes und elendes Leben gefaßt. Und lassen Sie sich auf alle Fälle sterilisieren. Und dann viel Glück und alles Gute.
Ich bin fehl am Platz hier, dachte Philip. Das hier ist ein wertvoller Dienst an der Menschheit, aber ein guter Fürsorger konnte auf meinem Posten mehr ausrichten. Mein Platz ist im Laboratorium, wo ich erforschen kann, was es mit der unendlich komplizierten Struktur des genetischen Codes auf sich hat, der sich wahllos gruppiert und Anomalien wie Huntington-Chorea produziert.
Ich müßte wieder in meinem eigenen Labor sein, dachte Philip. Aber wie? Meine Mutter ist sterbenskrank. Es ist zwar nicht schön, so etwas überhaupt zu denken, aber ihr Tod wird eine doppelte Erlösung sein: für sie von der Qual des Lebens und für mich von den letzten Fesseln meines Geburtslandes. Wenn sie erst gestorben ist, kann ich gehen und brauche nie wiederzukommen.
Heute hatte er einen langen Brief von Jorgenson bekommen, der vorübergehend sein Labor in Toronto leitete. Er war ein begabter und tüchtiger Wissenschaftler, aber manchmal neigte er dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen. Bewegte er sich jetzt auf der falschen Fährte, dann könnte die kostspielige und zeitraubende Arbeit von Monaten vergeblich sein. Es juckte ihn, wieder in seinem Labor zu sein. Das Projekt hatte ein interessantes Stadium erreicht; ihm ging es wie einem Detektiv, der nur noch das letzte Glied in der Beweiskette sucht, um das Geheimnis eines Verbrechens aufzudecken. Plötzlich hatte er eine Idee. Konnte er nicht an seinem Projekt weiterarbeiten?
Er öffnete die Tür zu dem kleinen Labor. Groß genug war es für das, was er vorhatte. Einig Apparate standen staubbedeckt herum, aber die würden natürlich nicht ausreichen.
Da lag das Problem. Es würde eine Menge Geld kosten, all das Zeug zu kaufen und zu installieren, wenn es überhaupt hier erhältlich war. Gleave hatte ihm zwar seine Hilfe angeboten, aber sein kleines Budget würde bestimmt nicht ausreichen, um ein Elektronenmikroskop anzuschaffen, das
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