Die Erbsünde
Manchmal waren sich ihre Blicke zufällig begegnet, aber einer der beiden hatte immer weggesehen. Jetzt standen sie sich gegenüber. Philip hob leicht die Brauen, in seinen Augen lag noch immer die Frage. Deon war ruhig und selbstbewusst. Er streckte die Hand aus.
»Guten Morgen, Philip«, sagte er. Und zu der verwirrten alten Frau: »Guten Morgen, Mrs. Davids.«
Sie murmelte einen Gruß, ohne aufzusehen. Er trat neben sie und legte begütigend die Hand auf ihren mageren Arm. Er fühlte, daß sie zitterte. »Darf ich Ihnen helfen?« sagte er, und die beiden jungen Männer stiegen zusammen die Treppe hinauf, zwischen sich die gebrechliche Frau. Deon sah auf. Von den selbstgefälligen Gesichtern der Zuschauer war jedes Lächeln verschwunden.
Boet starrte Deon mit vor Staunen offenem Mund an. Sein Vater blickte zu den Bergen in der Ferne, als hätte er nichts gesehen.
Deon blieb vor ihnen stehen und hinderte dadurch Philip und dessen Mutter, weiterzugehen.
»Vater«, sagte er. »Erinnerst du dich noch an Mrs. Davids? Und Philip?«
Sein Vater blickte unverwandt zu den stahlblauen Bergen.
»Mein Herr«, sagte die Farbige weich, fast bittend.
Johan Van der Riet antwortete mit keinem Wort und sah sie auch nicht an. Er nickte nur mühsam, aber sein Blick war noch immer in die Ferne gerichtet. Die beiden gingen weiter.
»Dich hat wohl der Teufel geritten, wie?« zischte Boet wütend.
»Ich sagte schon«, erwiderte Deon, »sie hat ein größeres Recht, hier zu sein, als du. Ihr Sohn ist Arzt.«
»Das heißt noch lange nicht, daß du … Was für ein Mensch bist du eigentlich?«
»Ich bin Arzt, und er ist Arzt.«
»Und ein verdammter Kaffernfreund bist du auch, was?«
»Genug jetzt«, sagte ihr Vater barsch. Sein düsterer Blick ging von einem zum andern. »Bedenkt, daß ihr Brüder seid.« Er wandte sich zur Tür, durch die Philip und seine Mutter eben verschwunden waren. »Ich glaube, es ist Zeit, das wir reingehen.«
Es war schwer, in den feierlich ernsten Gesichtern über den strengen Talaren die übermütigen Medizinstudenten wieder zu erkennen, die sie vor wenigen Wochen noch gewesen waren. Fast schien es, dachte Deon, als seien die Prüfungen wahrhaftig das Fegefeuer gewesen, das manche von ihnen gefürchtet hatten – die läuternde Flamme, die die Schlacke hinwegschmolz und nur das reine Metall zurückließ. Junge, dachte er, du dramatisierst mal wieder ganz schön! Sei nicht albern. Alle sind heute ein bißchen überwältigt. Du kannst noch nicht glauben, daß du es wirklich geschafft hast, und bist deswegen aus dem Gleichgewicht. Darum hast du wahrscheinlich eben auch so gehandelt.
Aber darüber wollte er sich später Gedanken machen. Er sah sich um, betrachtete die steinernen Bögen über den halbrunden Fenstern und dann die Leute. Auf der anderen Seite des Mittelgangs saßen die Techniker, schräg davor die Kunstklasse. Nur wenige der Mädchen trugen langes Haar, und er meinte, Trishs rote Mähne zu erkennen, aber ganz sicher war er nicht. Er war auch nicht erpicht darauf, sie zu sehen oder von ihr gesehen zu werden. Er drehte sich um und schaute nach hinten zur Tür. In einer der letzten Reihen saß Philips Mutter auf einem Eckplatz. Hier und da konnte man verstreut andere Farbige und einige Inderinnen mit glitzernd besetzten Saris entdecken. Alle saßen sie allein, bis Platznot einen Weißen zwang, sich neben sie zu setzen, aber die Kluft blieb bestehen.
Er ließ den Blick über die Reihen zart pastellfarbener Kleider und dunkler Anzüge gleiten, aber das markante Profil seines Vaters war nirgends zu sehen. Ob er aus Versehen auf die Empore gegangen war? Dann sah er die hochgewachsene Gestalt am Eingang zu einem erhöhten Podium, das für die Prominenz reserviert war. Er stritt sich mit dem Türhüter herum, der ihn nicht durchlassen wollte. Der Türhüter deutete wiederholt auf die Eintrittskarte, die die falsche Farbe hatte, und Johan Van der Riet wedelte ihm damit vor dem Gesicht herum, als sei sie nur ein Wisch, den anzuerkennen er für sich unter seiner Würde hielt. Schließlich gab er es aber doch auf und stapfte dorthin, wo auch die anderen alle saßen. Boet trottete dümmlich hinterdrein.
Sie fanden zwei Plätze inmitten einer Gruppe mittelalterlicher, offensichtlich wohlhabender Paare. Deon konnte sich die Unterhaltung vorstellen, die da im Gange war: von Parties und Bällen, von Prominenten, die man beim Vornamen nannte, und alles war ›famos‹ und ›phantastisch‹ und
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