Die Erbsünde
ihren Blick zu erwidern. Bitte mach, daß sie keinen hysterischen Anfall bekommt.
Aber ihre Stimme war wieder nüchtern und sachlich, als sie langsam sagte: »Es war grauenvoll.« Sie nickte nachdenklich. »Grauenvoll.«
Er träumte. Er war am Flughafen. Trish wollte wegfliegen, und er versuchte verzweifelt, sie zu finden, um ihr noch etwas Wichtiges zu sagen. Aber er kam nicht durch das Gedränge und wurde vom Strom der Menschen immer weiter fortgetrieben. Plötzlich stand er ganz allein da. Er sah gerade noch, wie das Flugzeug mit ihr in den Lüften verschwand, bis es nur noch ein Punkt am Himmel war. Er wurde schier erdrückt von der Last unerträglichen Kummers. Da schrie jemand laut auf. Er sah ängstlich hoch, weil er dachte, das Flugzeug sei abgestürzt. Wieder ein Schrei, und er war wach. Mit einem Ruck setzte er sich in seinem provisorischen Bett auf dem Fußboden auf.
Sein eigenes Bett, in dem Trish geschlafen hatte, war leer. Die Leintücher waren hastig zurückgeschlagen worden. Sie schrie ein drittesmal aus dem Badezimmer. Sie hatte zu bluten begonnen, ehe sie das Bad erreichte; eine rote Spur führte zur Tür. Aber sie hatte die Tür hinter sich zugemacht, und jetzt war nichts mehr zu hören. Mit einem Satz war er bei der Tür und riß sie auf; er war auf eine Katastrophe gefaßt.
Sie stand mit dem Rücken zu ihm in dem winzigen Raum, der ursprünglich als Toilette für die Bediensteten gedacht war und nur das Allernötigste enthielt: eine Dusche mit kaltem Wasser und eine Toilette. Der einzige Aufwand, zu dem seine Wirtin sich hatte hinreißen lassen, waren die in apartem Lila gestrichenen Wände. Trish hatte die Pyjamahose ausgezogen; Blut floß ihr langsam die nackten Beine hinunter, aber sie achtete nicht darauf. Sie starrte reglos in die Toilette. Er blickte ihr über die Schulter und sah, warum sie geschrien hatte. Er mußte wohl gestöhnt haben, denn Trish sah sich um. »Es ist tot«, sagte sie beiläufig, als mache sie eine Bemerkung über das Wetter. Er packte sie bei der Schulter, schob sie aus dem Bad zurück ins Zimmer und half ihr, sich aufs Bett zu legen, nachdem er Kissen und Handtücher darauf ausgebreitet hatte. Er arbeitete gewissenhaft und konzentriert. »Deine Strumpfhosen«, sagte er, »diese Ballettdinger, wo hast du sie hingetan?«
Sie nickte zum Koffer hin. Sie lag mit weitgeöffneten Augen auf dem Bett, ihr Haar war matt und glanzlos, die Stirn glänzte feucht. Sie sah ihm zu, wie er eifrig hin und her lief, und schien es gern zuzulassen, daß er die Sache in die Hand nahm.
»Also«, sagte er, »ich gehe jetzt telefonieren. Sobald ich den Arzt benachrichtigt habe, bringe ich dich ins Krankenhaus. Du brauchst dir jetzt absolut keine Sorgen mehr zu machen. Es ist alles vorbei.«
Sie nickte wie ein braves Kind.
»Das heftige Bluten wird bald aufhören. Dann nimmst du Binden und ziehst die Strumpfhose drüber. Steh nicht auf, ich bring' sie dir. Sieh zu, daß sie fest anliegt, ja?«
Sie nickte wieder.
»Schön. Dann geh' ich jetzt.«
Er holte aus dem kleinen Fiat das Letzte heraus, der Motor heulte durch die leeren Straßen. Am Telefon gab er sich forsch und sachlich, der Arzt am anderen Ende der Leitung reagierte mit gleicher Unerschütterlichkeit. Er wollte sich in einer Viertelstunde auf den Weg machen. Nein, es würde keine Schwierigkeiten geben, die Schwestern waren auf eine gelegentliche Fehlgeburt eingestellt. Bis dahin, alter Knabe.
Trish hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie wandte ihm den Kopf zu, als er hereinkam, aber sonst rührte sie sich nicht.
»Wie fühlst du dich?« fragte Deon.
Sie nickte nur.
»Schön«, sagte er munter. »Der Arzt ist schon unterwegs ins Krankenhaus, und ich bring' dich gleich hin. Zieh jetzt die Strumpfhose an, ja?« Er lächelte ihr zu und ging ins Bad. Die Tür machte er fest hinter sich zu.
Sommer
4
Deon bemerkte mit Bestürzung und einiger Besorgnis, daß sein Vater keuchte, als sie den letzten Treppenabsatz erreichten. Bei jedem mühsamen Atemzug weiteten sich seine Nasenlöcher wie bei jemand, der an Lungenentzündung leidet. Auf seiner Stirn, unter dem Rand des schwarzen Hutes, perlten feine Schweißtropfen. Dabei war es gar nicht so heiß.
Na ja, er wird halt auch nicht jünger, sagte Deon sich. Er ist jetzt sechzig oder drüber, nicht gerade alt, aber auch nicht allzu jung. Seltsam, er konnte sich nicht vorstellen, daß sein Vater je altern oder sich überhaupt irgendwie verändern könne. Und doch hatte er
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