Die Erbsünde
ihn und klopfte ihm auf den Rücken, als suche er seine eigene fieberhafte Erregung auf ihn zu übertragen.
»Ja.« Deon war etwas peinlich berührt von Philips Leidenschaft.
»Vor dir siehst du die sechsundvierzig Chromosomen der Blutzelle eines Weißen. Darin eingeschlossen liegen alle erblichen Faktoren. Man könnte sogar sagen, daß du da den ganzen Menschen hast.«
Deon sah auf, um ihn zu unterbrechen, aber Philip fuhr fort. »Jetzt mache ich folgendes: Ich fotografiere sie, dann schneide ich sie alle einzeln aus, stelle sie paarweise der Größe nach zusammen und füge die beiden Geschlechtschromosomen hinzu. Dann habe ich, was wir eine Karyotype nennen.«
»Und dann?«
»Dann? Mann Gottes, davon hängt die Zukunft der Menschheit ab! Du weißt ja, daß manche Erkrankungen mit Chromosomenanomalien zusammenhängen. Nun, unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, warum, und es nach Möglichkeit zu verhindern.«
»Da habt ihr euch ja einiges vorgenommen.«
»Mag sein. Aber wer weiß? Erinnerst du dich noch an die Stelle in der Bibel, wo es heißt: ›Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied …‹?« Philip sah Deon eindringlich an. »Das habe ich immer als eine große Ungerechtigkeit empfunden«, sagte er.
»Na ja …«
Philip neigte höflich den Kopf in Erwartung dessen, was Deon zu sagen hatte. Als nichts kam, deutete er aufs Mikroskop. »Da drin ist das Geheimnis verborgen, warum deine Haut weiß ist und meine braun, warum ich nicht in denselben Bars trinken und nicht an denselben Stränden baden darf wie du. Nur wegen einer Variation im System von wahrscheinlich Hunderten von Tausenden in diesen Chromosomen. Nur deswegen.«
Deon warf ihm einen kurzen Blick zu. »Es ist verrückt«, sagte er. Philips Gefühlsausbruch beunruhigte ihn. Der Farbige hatte nie zuvor eine direkte Anspielung auf seine Rasse gemacht. Deon konnte sich nicht erinnern, ihn je so erbittert gesehen zu haben.
Philip lachte rau. »'tschuldige. Ich habe dich nicht hergeholt, um dir Vorträge zu halten. Darf ich dir etwas Blut abzapfen?«
»Bitte. Bedien dich nur.« Deon zog sein Jackett aus, drückte den rechten Bizeps heraus und ballte die rechte Hand zur Faust. Philip stand mit der Spritze bereit. »Es tut nicht weh.«
»Das hat schon manch einer gesagt!« erwiderte Deon, und sie lachten beide. Deon sah das dunkle Blut in der Spritze hochsteigen. »Was hast du vor, wenn deine Assistenzzeit hier vorbei ist?« fragte Deon. »Du gehst doch sicher nach Übersee?«
Philip zog geschickt die Nadel heraus, betupfte die kleine Stichwunde mit einem Wattebausch und bedeutete Deon, den Arm zu beugen. Seine Miene war angespannt und wachsam. »Hier gibt es keine Zukunft für mich.«
»Da magst du recht haben«, pflichtete Deon bei.
»Keine Zukunft und keine Hoffnung«, fuhr Philip fort.
Deon untersuchte umständlich den winzigen Nadelstich in seiner Armbeuge. Er wollte sich nicht in eine Diskussion ziehen lassen. Er wollte in Ruhe gelassen werden.
Aber Philip ließ sich nicht beirren. »Manchmal wundere ich mich, daß man mir erlaubt, die Zellen von Weißen zu untersuchen«, sagte er mit einem säuerlichen Lächeln.
»Kennst du Dr. Rajan?«
»Ist das der Inder in der Pathologie?«
»Ja. Neulich war ich gerade bei ihm, als man ihm einen Knoten aus der Brust einer weißen Frau brachte. Die Chirurgen warteten im Operationssaal auf seinen Befund, also hing es von seiner Entscheidung ab, ob sie die Brust entfernen mußten oder nicht. Aber es wäre ihm nicht erlaubt gewesen, den Knoten in der Brust der Frau auf der Station abzutasten.«
Deon schüttelte den Kopf und sah zur Seite. »Ja, es ist verrückt.« Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Philips Grimm war völlig berechtigt, aber was nützte das schon? Konnte man mit Worten etwas gegen die Vorurteile ausrichten? Vielleicht. Was hatte ihn wohl dazu gebracht, sich heute Abend Luft zu machen?
Deon schmunzelte. Eine Episode aus der Kindheit fiel ihm ein. »Weißt du noch, wie wir früher zusammen Brüste abgetastet haben?«
»Was?«
»Erinnerst du dich noch an den Heuboden über dem Scherschuppen?«
Philips versteinerte Züge entspannten sich, er lächelte in Erinnerung an ihre Kinderstreiche. »Das hatte ich völlig vergessen.«
Es war kurz bevor Philips Vater tödlich verunglückte, als er in einem schwer mit Wollballen beladenen Laster auf dem Weg zum Bahnhof umkippte. Philip war damals
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