Die Erbsünde
Schultern.
Philip setzte sich auf und spähte nach vorn durch die Windschutzscheibe. »Nächste Straße links«, sagte er, »und dann wieder links, hinter dem Block.«
Sie hielten vor dem Haus. Es war so klein wie die anderen und ähnlich im Stil. Eine Straßenlaterne beschien einen freundlichen und gepflegten Garten hinter einer roten Backsteinmauer.
»Nochmals vielen Dank«, sagte Philip, »auch fürs Nachhausefahren. Es war sehr nett von dir.« Er klinkte die Wagentür auf und hielt inne. »Möchtest du noch auf einen Sprung hereinkommen? Meine Mutter würde sich freuen.«
Deon war überrumpelt. »Nun, ich … Es ist sicher schon ein bißchen spät für sie, oder? Und ich habe morgen einen schweren Tag.«
Philips Gesicht verriet weder Bedauern noch Erleichterung. »Natürlich«, sagte er leichthin und öffnete die Tür. »Gut«, er lächelte Deon kurz an, »ich hoffe, es geht alles gut morgen!«
Er blieb am Gartentor stehen, bis der Jaguar anfuhr. Im Rückspiegel sah Deon, wie er das Tor öffnete und hinter einer Sträucherreihe verschwand.
Deon tat es sofort leid, daß er die Einladung abgelehnt hatte. Trottel! schalt er sich. Wie muß der Mann sich vorkommen. Du bist also doch nicht der großherzige Held, der einen Farbigen zu sich nach Hause zum Essen einlädt. Wenn er dich dann in sein Haus bittet, ist es dir nicht gut genug!
Er nahm die Kurve so schnell, daß die Reifen quietschten. Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, sagte er sich, daß der Grund für seine Feigheit nicht nur eine Rassenfrage war. Er hatte wirklich einen langen und schweren Tag hinter sich: Ein Kind war gestorben, und er hatte die bittere Entdeckung machen müssen, daß er diesen Tod verschuldet hatte; am Vormittag hatte er eine lange und schwierige Operation gehabt, am Nachmittag eine Vorlesung; der Abend war nicht ohne Spannungen verlaufen …
Und doch. Er hätte nicht ablehnen dürfen.
War der wahre Grund etwa, daß er sich scheute, der Frau zu begegnen, die einst die Geliebte seines Vaters gewesen war und ihm ein Kind geboren hatte?
Wenn er ehrlich sein sollte: Ja.
Und sofort erstand vor seinen Augen das Bild seiner eigenen Mutter, als sei es hinter einem dunklen Vorhang verborgen gewesen und habe nur auf ein bestimmtes Zeichen gewartet, um ins Leben zu treten.
Ihr schütteres Haar war nun schlohweiß und bedeckte wie eine Watteschicht ihren Kopf. Der Schlag hatte ihre rechte Seite gelähmt, so daß ihr Mund schief herunterhing und sie nur schleppend sprechen konnte. Doch folgten ihre Augen wachsam jeder Bewegung, lebhaft beobachtend, was um sie herum vorging.
Deon nahm sich fest vor, seine Mutter am nächsten Wochenende zu besuchen; und empfand dabei sofort einen geheimen Widerwillen, den er nicht zu unterdrücken vermochte. Wie bitter mußte es sein, das Ende seiner Tage abzuwarten und zu wissen, daß man unerwünscht war, dachte er.
Vor einem Jahr hatte sein halbvergessener Onkel angerufen. Zuerst wußte er gar nicht, mit wem er es zu tun hatte, als seine Sekretärin ein Ferngespräch von einem Mr. de Jager aus Lichtenburg meldete. Erst als sie das Begrüßungszeremoniell hinter sich gebracht hatten, erkannte er die schwere, zögernde Stimme.
»Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, daß ich dich anrufe.«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Deon mit all seiner verfügbaren Wärme und Aufrichtigkeit.
»Ich weiß, daß du sehr viel zu tun hast«, beharrte der alte Mann, »ich habe von dir in der Zeitung gelesen. All diese Operationen. Und immer auf Reisen. Ich weiß, daß du viel um die Ohren hast.«
Deon versuchte, der langatmigen Rede ein Ende zu machen. »Ist es wegen meiner Mutter, Onkel Pieter?«
»Deiner Mutter? Ja, es ist wegen Margriet. Sie ist im Krankenhaus. Ich mußte sie gestern nach Lichtenburg bringen.«
»Im Krankenhaus!« Deon war besorgt und beschämt. Vielleicht hatte der alte Mann ihm mit seiner umständlichen Entschuldigungsrede einen vorwurfsvollen Stich versetzen wollen? Wann hatte er seine Mutter zuletzt gesehen? Vor drei oder vier Jahren, als sie Verwandte in Pretoria besuchte und er zufällig dort zu einem Kongress war. Und davor? Auch wieder ein paar Jahre. Er hatte sie auf der kleinen Farm seines Onkels im westlichen Transvaal besucht, um den nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag zu machen, sie zu sich zu nehmen. Als sie ablehnte, drückte er anstandshalber Bedauern aus, war aber erleichtert, denn sie würde nie in das Leben passen, das Elizabeth und er führten. Also hatte er
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