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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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geht’s nicht ums Gefühl, bei uns geht’s ums Überleben, würde ich gerne einwenden. Aber die Hiesigen kontern dann, dass man ohne dieses Gefühl nicht überleben kann, und die Katze unseres gegenseitigen Nichtverstehens beißt sich erneut und kräftig in den Schwanz und wir drehen uns schwungvoll weiter aneinander vorbei. Ich betrete inmitten der Menge die schöne Altstadt, biege von der breiten Fußgängerzone der Kärntner Straße schnell ab, um den Touristenströmen zu entgehen, so viele habe ich hier noch nie gesehen, und es werden immer noch mehr und mehr. Überquere ein paar Gässchen, setze meine Füße mit besonderem Bedacht auf das abgeschlagene Kopfsteinpflaster, zwischen den alten Steinen staut sich Pferdeurin.
    Die Fiaker fahren diese Route mehrmals stündlich. Die Pferde tragen bunte Ohrenschoner und Kopfschmuck, der an indische Elefanten und venezianische Masken erinnert, sie stehen stundenlang in der prallen Sonne vor dem großen Dom. Hier ist überall Kopfsteinpflaster, nicht die Marmorplatten, die es in Rom gibt, nicht die engen asphaltierten Gassen, die die Kanäle entlanglaufen, von gebogenen kleinen Brücken unterbrochen, wie in Venedig, nicht die großzügigen Boulevards von St. Petersburg oder London oder Warschau. Würde man sie alle festhalten, die nachgezeichneten Routen meiner Wanderung, sie würden wohl einen dichten Teppich voller sinnlos verschlungener Muster bilden, von meinen Füßen ins europäische Festland gewebt.
    Ich sehe konzentriert auf den Boden, auf die Collage verschiedener Steinquader. Erdbraun, rindengrau, meergrün, quarzschwarz, eierschalenfarbig gesprenkelt, fein abgestufte Töne. Steinschuppen angeordnet wie die Panzer großer uralter Schildkröten, als könnte die alte Stadt ihren Rücken plötzlich krümmen und die Neubauten und Eindringlinge abwerfen, die sich ungefragt in ihr eingenistet haben, die Schanigärten und die billig eingerichteten Touristenfallen.
    Ich darf weder mit den Absätzen steckenbleiben, noch das Leder weiter beschädigen, hohe Absätze sind das Erste, was an einem Schuh das ärmliche Leben verrät, abgetretene Sohlen, weghängende Stückchen Leder, Kratzspuren, verblassende Farben.
    Kurz bevor ich den Graben erreiche, laufe ich in eine gewaltige Menschenmenge hinein, es staut sich bis in die anderen Seitengässchen, Frauen mit Fächern, Männer mit Fotoapparaten, alle mit Karten, manche sogar mit Feldstechern ausgerüstet. Es ist absurd, sie stehen da mit Operngläsern, mitten auf der Straße. Ich versuche, an ihnen vorbeizukommen, es erweist sich als unmöglich, die Bewegung der Menge hat mich in die Gasse hineingeschoben und kommt nun vollständig zum Erliegen, dicht stehen die Menschen nebeneinandergedrängt, ich kann weder vor noch zurück, ohne Gewalt anzuwenden. Alle Augen sind nach vorne gewandt, in Spannung, in Ehrfurcht gar, scheint mir, die Stimmung hat etwas vom atemlosen Begaffen eines Unfalles auf offener Straße gemischt mit der atemlosen Bewunderung eines seltenen Exponates im Museum.
    Und während wir da regungslos stehen und gaffen, donnert ein tiefes Grollen, ein gewaltiges Glockenwummern über uns hinweg, das vom gotischen Dom herüberdringt. Mir fällt auf, dass ich dieses Glockenläuten des Stephansdomes noch nie bewusst gehört habe. Verglichen mit den satten schwingenden Tönen erscheint das Glockenläuten anderer Kirchen geradezu mickrig und nicht weiter ernst zu nehmen, die Schwingungen nehmen ihren Ausgang Hunderte von Metern über meinem Kopf und münden schwer und satt in meiner Magengrube.
    Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, kann ich weiter vorne eine Absperrung erkennen, neben der Polizisten stehen, der Anblick der blauen Uniformen löst eine gewohnte Schockwelle aus, die das Glockenläuten aus meinen Eingeweiden sofort vertreibt, nur eine leise nagend wohlbekannte Angst bleibt über.
    Gut, dass ich in dieser Menge an Fremden stehe, meine Angst ist absolut überzogen. Ich weiß das, bekomme sie aber trotzdem nur langsam in den Griff. Ich hole die Gratiszeitung, deren Bilder ich mir im Bus angesehen habe, aus der Tasche und beginne mich ebenso entspannt damit zu befächeln wie die Damen links und rechts von mir, ich setze meine Sonnenbrille auf und lächle den anderen zu, ich bin ab sofort Teil der Gruppe.
    Diese Gruppe setzt sich langsam in Bewegung und zieht mich mit, sich gegen den Strom zu stellen, ist nicht ratsam, wir gehen in vorsichtigen Halbschrittchen, ich spüre Ellbogen und Kameraobjektive in

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