Die Erdfresserin
Problem.«
»Nein, das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass meine Familie erfriert, wenn ich kein Geld schicke.«
»Sind Sie politisch aktiv gewesen?«
»Nein.«
»Herrje. Heimlich religiös? Nein?«
Sie rollt die wässrigen Augen. Dr. Petersen scheint über den Verlauf dieses Gespräches eher unglücklich zu sein, es ist ihm sichtlich unangenehm. Er sieht mich nicht an.
Sie schlägt mit meiner Mappe auf ihre Hände und auf den Tisch, in nervösen, kurzen Bewegungen, wie ein Pferd, das mit dem Schweif nicht vorhandene Mücken vertreiben möchte.
»Sind Sie wenigstens vergewaltigt worden?«
»Nein«, sage ich und stehe auf. »Nie.«
*
Ich gehe ins Foyer des Spitals und sehe lange, lange nach draußen, sehe den Menschen zu, wie sie hinein- und hinausströmen, die Glastüren öffnen und schließen sich wie Münder, aus denen nichts Sinnvolles kommt. Anna kommt vorbei, sieht mein Gesicht, umarmt mich. Fragt mich, was sie für mich tun könne. Ich wünsche mir eine Blume. Sie geht in der Mittagspause hinaus und holt mir eine schöne magentafarbene Rose, die betörend riecht. Ich lehne meinen Kopf fast an ihre breite Schulter, ich atme die Zitrone, die sie umgibt, ich bedanke mich und gehe hinauf in mein Zimmer, das immer noch nur mir gehört.
»Geh doch putzen«, sagen sie mir. Ich bin zu schmutzig zum Putzen.
Ich stelle die Blume in mein Zahnputzglas, stelle das Glas neben mich aufs Nachtkästchen und lege mich schlafen, nicht ohne die passende Pille eingenommen zu haben. Irgendwann kommt eine Schwester und weckt mich auf und überreicht mir eine kleine Plastikkarte.
»Das ist für Sie. Von Dr. Petersen«, sagt sie.
Ich sehe sie fragend an.
»Das ist die Wertkarte fürs Telefon«, erklärt sie mir ungeduldig. »Da sind zwanzig Euro drauf. Nun stecken Sie sie schon ein.«
*
»Wie geht es euch?«
»Es ist gut.« Meine Schwester schluckt, entweder sie lügt, oder sie trinkt nebenbei Tee, ich kann es nicht herausfühlen. »Ich habe deinen Brief bekommen. Ich habe überall gefragt. Überall.«
»Und?«
»Was glaubst du denn. Ich hätte doch längst gearbeitet, wenn es etwas gäbe.«
»Ich mache alles, hast du das gesagt?«
»Natürlich habe ich das. Ich werde morgen in die Nachbardörfer fahren und dort auch noch fragen.«
»Mach das, bitte mach das«, sage ich. »Wo ist Mutter? Kann ich sie kurz sprechen?«
»Im Kinderzimmer. Sie kann gerade nicht.«
»Wie geht es ihm?«
»Gut.«
»Wie schön«, sage ich. »Wie schön.«
»Wann kommst du?«, fragt sie, und ich weiß, was das bedeutet: Wann bringst du.
»Lass mir noch etwas Zeit«, sage ich, »vielleicht geht es hier besser mit Arbeit.«
»Ja, vielleicht«, sagt sie, und sie klingt erstmals wirklich erleichtert.
*
Ich schleiche mich abends ins Nachbarzimmer und plündere dort die Medizinschächtelchen. Lasse vor dem Schlafengehen nun zwei rosa Tabletten bitter im Mund zergehen, ohne nachzutrinken. Ich schlafe fast augenblicklich ein, als hätte man mich gefällt wie eine hundertjährige Eiche.
Ich stehe in einem kleinen, dunklen Raum, die Fenster sind eigenartig beschlagen, das Licht dringt wie bläulich gefiltert durch das Eis, das sich über die Fensterscheiben gezogen hat, über die Fensterriegel, die Wände sind mit Rauhreif überzogen, mein Atem kondensiert vor meinem Mund, in den Raumwinkeln ist es neblig, oder der Boden dampft, als wäre dort die letzte Wärme des Hauses gespeichert, jener Nebel, der im Morgengrauen über den Waldseen schwebt, steigt auf an meinen Beinen entlang, der Boden haucht die Wärme aus, die er noch hat. Ich fröstle. Meine Hände sind bläulich. Ich starre ungläubig auf diese blauen Hände, die eigenartig fremd wirken, irgendwo auf dem Boden erkenne ich Reste einer buntgemusterten Babydecke, aus der beständig kleine Rinnsale Wasser laufen, die zu kleinen dunklen Pfützen auf den Holzdielen gerinnen und bald eine feine Eiskruste bilden. Alles erstarrt hier. Alles ist rein und kristallin. Ich gehe durch den Nebel, weg vom Fenster mit den Eisblumen. Am anderen Ende des Raumes steht ein Bett aus dunklem Holz. Ich weiß, dass sie darin liegt. Ich beuge mich über sie. Ihr Gesicht ist regungslos, die feinen langen Haare offen, sie bilden ein graues Netz über dem gefrorenen Baumwollstoff des Polsters, die Wimpern, die Haut, die Lippen, alles bläulich weiß, nur die dunklen Höhlen der Augen, die wie die Pfützen am Boden glänzen, nicht. Meine Schwester steht neben mir, seltsam, ich habe sie vorher gar
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