Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
Vom Netzwerk:
nicht gesehen. Sie steht neben mir und beugt sich ebenfalls langsam, langsam hinab zum Lager meiner Mutter. Sie legt ihr eine Hand auf die Stirn, Finger verschmelzen mit Haut, ich höre ein eigenartiges Geräusch, als der Rauhreif sie überzieht, und mache ebenso langsam einen sehr vorsichtigen Schritt zurück. Neben dem Bett sitzt eine übergroße Puppe auf dem Boden, die die Züge meiner Mutter trägt, ich achte darauf, sie nicht zu berühren, während ich traumwandlerisch sicher rückwärtsgehe, dorthin, wo ich im Nebel die Tür vermute. Ich wache schreiend auf.
    *
    Er sieht niedergeschlagen aus, vielleicht bilde ich mir das nur ein. Vielleicht ist es ihm auch egal. Die Mokkatasse steht wieder zwischen uns. Den Löffel hat er danebengelegt.
    »Wir müssen uns entscheiden, Diana.«
    »Nein, Herr Doktor. Ich. Ich muss mich entscheiden.«
    »Sie sollten überlegen, wie Sie zurückkehren und einem geregelten Beruf nachgehen können. Sie könnten nach Hause zurückkehren. Sie könnten dort eine Arbeit finden.«
    »Machen Sie sich über mich lustig?«
    »Nein, ich glaube daran, dass Sie das können.«
    »Aber mein Land kann das nicht, Herr Doktor.«
    *
    Den ganzen Morgen fixiere ich die Uhr in meinem Zimmer, als könnte ich die Bewegungen der Zeiger durch mein Warten beschleunigen. Nach dem Mittagessen lege ich mich üblicherweise nieder, ich habe mir angewöhnt, in der zweiten Hälfte des Tages ein Verdauungsschläfchen zu halten, die Muskeln entspannen sich leichter, wenn der Magen gut gefüllt ist und der Kopf auf einem weichen Polster liegt, der meine Nackenform nachzeichnet. Ich lege mich hin, und dann fällt mein Blick auf das glänzende Telefonkästchen, und ich schaffe es nicht, bis zum Nachmittag zu warten, und ich wähle. Meine Finger tanzen ferngesteuert auf der Tastatur, ich könnte die Nummer nicht aufsagen, aber ich kann sie jederzeit mit der Bewegung meiner Fingerspitzen nachzeichnen.
    Es knackt lange, bis das Geräusch sich in ein langgezogenes Signal wandelt.
    Jedes Mal fühle ich mich wie ein Raumfahrer, der mit stockendem Atem den Heimatplaneten ansendet, und jedes Mal weiß ich nicht, ob ich in der unendlichen Weite nicht ganz allein im Dunkeln zwischen den leuchtenden Punkten der Sterne bleibe. Es knackt und läutet, knackt und läutet.
    »Hallo«, sagt meine Schwester gehetzt, es hat lange gedauert, bis sie zum Telefon kam, vermutlich aus dem Keller oder vom Dachboden, ihr Atem geht schwer.
    »Ich bin’s.«
    »Ach Diana.«
    Ihre Stimme klingt dumpf, seltsam, unangenehm verändert. Durch meine auferlegte Ruhe dringen Wellen von Angst.
    »Was ist los«, schreie ich, ich schreie sofort.
    »Weg ist er«, schreit sie ebenfalls.
    »Was heißt, er ist weg?!«
    Sie beginnt zu schluchzen, ich könnte sie auf der Stelle ermorden. Sie ist schwer zu verstehen, ich höre deutlich, wie sie Rotz durch die Nase aufzieht, aber ihre Worte höre ich kaum.
    »Sie haben ihn gestern geholt.«
    »Wer? Wer hat ihn geholt? Wo ist er?«
    »In der Stadt. In der Anstalt.«
    Ich lasse den Hörer sinken. Bei uns ist nichts umsonst, gar nichts, und psychisch Kranke sind auch schon verhungert oder auf unerklärliche Art und Weise verstorben, wenn man den Pflegern und Ärzten kein Geld anbieten konnte.
    »Wie konntet ihr das zulassen«, sage ich leise.
    »Was sollte ich denn machen«, kreischt sie. »Er war doch gewalttätig. Wir hatten seit Wochen keine Medizin und kein Geld!«
    Ich atme tief ein und tief aus, ganz nach Dr. Petersens Methode. Meine Stimme wird ruhiger. Es gibt immer nur Platz für einen von uns, um krank zu sein, es gibt niemals Platz für mehrere. Ich wiederhole die Übung, länger kann ich mir nicht Zeit lassen, denn die Karte ist bald aufgebraucht und ich lande demnächst wieder im einsamen All des Nichtverbundenseins.
    »Borgt euch sofort was aus«, sage ich bestimmt. »Ich bin in einer Woche da.«
    *
    Ich sitze in meinem Zimmer und halte die aufgeblähte Rosenkugel in meinen Handflächen wie ein Gebet, ich betrachte sie andächtig, gehorsam, ehrfürchtig, spüre die seidene Berührung der äußeren Rosenlippen, wie sehr sie doch dem Weiblichen ähneln, dieses Verborgene, das in einer plötzlichen Eruption nach außen drängt, sich offenbar macht, unübersehbar. Der Geruch ist schwindelerregend intensiv, wenn ich meine Nase vorsichtig zwischen die glänzenden Blätter schiebe. Innen ist es feucht und rot. Ich lege mein Gesicht vorsichtig, langsam hinein, drücke die Blütenblätter mit meinen Wangen zur

Weitere Kostenlose Bücher