Die Erdfresserin
zwei Möglichkeiten, an mein altes Leben anzuknüpfen, der Zufall soll entscheiden, wohin ich mich zuerst wenden werde.
Ich hole das fremde Handy aus meinem Rucksack, ich wähle Nastjas Nummer. Ich höre lange dem Läuten zu, irgendwann schaltet sich die Mobilbox ein.
Ich bitte um Hilfe, und um ihr Abheben. Dann versuche ich es noch weitere fünf Mal, ohne dass ich sie erreiche. Bei der Station, deren Auf- und Abgänge ich auswendig kenne, verlasse ich den Waggon, streife die Kapuze ab. Fahre beim Stiegensteigen mit der Hand durch das an den Kopf gedrückte Haar, um es aufzulockern. Es beginnt sich zu ringeln, die Luft ist feucht. In den blonden Strähnen sind die grauen Haare wieder zu sehen, und oben am Scheitel schwarz und weiß gestreifter Nachwuchs. Ich muss an Slavko denken.
Ich rufe Nastja ein letztes Mal an, dann nehme ich die SIM-Karte aus dem Gehäuse des Telefons und zerbreche sie. Neben dem Haus, in dem ich mit Nastja wohnte, befindet sich ein kleiner Laden, in dem gebrauchte Handys und Computerspiele verkauft werden. Leute wie Nastja und ich sitzen in kleinen Plastikzellen und telefonieren nach Hause, schreien die wichtigsten Informationen in die verrauchte Luft, man hört viele Sprachen, die sich gegenseitig überlagern, ein babylonisches Wertkartengewirr ist das. Ich zähle den Inhalt der beiden Geldbörsen, es ist nicht viel. Nicht genug. Die Menschen sind auch in Spitälern vorsichtig geworden. Mein Kopf beginnt zu schmerzen, heftig zu schmerzen, bis ich das Gefühl habe, jemand hätte mir ein glühendes Brandsiegel rund ums linke Auge aufgedrückt. Ich gehe den Weg, den Leo so oft gegangen ist, durchs verkommene Stiegenhaus, in dem es nach Pisse riecht, bis ans Ende des Ganges, bis zu unserer Tür. Ich klopfe, die Klingel ist schon lange kaputt. Nichts rührt sich. Ich klopfe noch einmal, ich brülle und trete gegen die Tür, setze mich dann auf die dreckigen Stufen und denke kurz nach. Die Schmerzen bohren sich in meine Denkversuche, zerfasern Gedankenstränge, ich kann mich kaum konzentrieren. Kurz habe ich das Gefühl, die Treppe würde sich unter mir erwärmen, erwärmen und in Bewegung geraten, leicht schwankend, als ob etwas unter mir langsam ginge, ginge. Ich stehe auf und verlasse das Haus.
*
Es ist noch früher Nachmittag, Slavkos Laden sperrt erst in vielen Stunden auf. Es hat keinen Sinn, jetzt dorthin zu fahren. Mir bleibt eigentlich nur noch ein Ort, an den ich zurückkehren könnte, ein letzter Ort, der mich an diese Stadt bindet. Es erscheint mir nur folgerichtig, auch diese Brücke niederzubrennen, und ich schlage den Weg ein, den ich zuletzt immer öfter von hier aus betreten habe, und fahre zuerst zum Karlsplatz. Quere den Park, umkreise den Teich mit der eigenartig verschlungenen Skulptur im Wasser, um den Bus zu nehmen, der schließlich vor Leos düsterer Gasse stehen bleibt. Die Häuser ziehen in einer langen, unübersichtlichen Reihe an mir vorbei, die Stadt hat sich unmerklich verändert, ich erkenne viele Orte nicht mehr, als wäre ich Monate fort gewesen. Leos Haus ist durch eine Gegensprechanlage vor Eindringlingen geschützt, ich nehme meinen Schlüsselbund aus dem Rucksack, suche, bis ich Leos Schlüssel, gekennzeichnet durch ein braunes Lederschildchen, auf dem LEO steht, mit den Fingern ertastet habe, ziehe ihn heraus und versuche, das Haustor aufzumachen. Zu meiner Überraschung passt der silberne Schlüssel nicht einmal annähernd ins Schloss. Dass Leos Wohnungsschloss von seinen Eltern ausgetauscht worden ist, erscheint mir einleuchtend. Aber wie haben sie es bloß geschafft, auch das Haustorschloss zu wechseln? Ich ziehe verdattert den unpassenden Schlüssel mit Mühe aus dem Schlitz, in den ich ihn gerammt habe, und warte einige Zeit, ob jemand hineingeht oder herauskommt. Niemand. Daraufhin drücke ich wahllos alle Klingeln der Gegensprechanlage. Leos Name steht nicht mehr darauf. Ich bin nicht mehr sicher, welcher Knopf zu seiner Wohnung gehören könnte.
Die Tür gibt einen summenden Ton von sich und springt auf. Ich schlüpfe schnell hindurch. Ich will es ganz genau wissen, krame den Postschlüssel, den ich Leo mit viel Mühe abgejagt habe, hervor und versuche, seinen Postkasten zu öffnen.
Der Schlüssel sperrt auch hier nicht. Ich gehe die Stufen hinauf, die gewundene Schnecke des Stiegenhauses hoch. Ich habe das Gefühl, dass die Treppe unter meinen Fußsohlen nachgibt. Am Fenster zwischen dem ersten und dem zweiten Stock hängt ein Frauenkopf mit
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