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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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und ich kann nicht einmal sagen, ob das eine schlimmer sei als das andere, alles ist unwirklich. Die blaue Pille bringt Schlaf. Die weiße weckt mich morgens auf. Dazu noch eine zarte, rosa wie kleine Blüten in Hagebuttensträuchern, meine kleine Blume der Entspannung, die mich verlässlich durch den Tag geleitet. Durch diese hagebuttenfarbene Ruhe dringt kaum Erinnerung mehr an Leo, kaum eine an meine Mutter.
    »Die nicht länger als zwei Wochen«, haben sie mir immer wieder erklärt. Sonst machten sie sich eher Sorgen, ich könnte meine anderen Pillen vergessen. »Hören Sie. Nicht öfter als einmal am Tag. Gut?«
    »Nicht gut«, habe ich gesagt und gelacht. Sie gaben mir trotzdem nur eine am Tag.
    *
    »Grüß Gott.«
    »Grüß Sie Gott, Diana.«
    Ich lächle, er lächelt, schwer zu sagen, wer aufrichtiger lächelt.
    »Sie sind nun fast fünf Wochen da. Wie fühlen Sie sich?«
    »Wie jemand, der fünf Wochen eingesperrt ist.«
    »Wie meinen Sie das, Diana?«
    »Fühlen Sie sich nicht eingesperrt hier, Herr Doktor?«
    »Nein. Ich bin gerne hier.«
    »Ich auch. Ich fühle mich trotzdem eingesperrt.«
    »Dann sollten wir langsam daran zu arbeiten beginnen, wie Sie wieder nach Hause können.«
    Ich stutze.
    »Wohin nach Hause?«
    Meine Schulterblätter spannen sich unwillkürlich wie Flügel eines flüchtenden Vogels. Von seinen Worten hängt viel ab, fast zu viel. Er weiß einiges von mir. Ob es richtig war, ihm von mir zu erzählen, frage ich mich augenblicklich, und ich atme vorsichtig ein und wieder aus, so wie er mir beigebracht hat, in aufgewühltem Zustand zu atmen, um mich wieder zu entspannen. Es kann nur richtig gewesen sein, denke ich dann. Als Erdklumpen verschlingende Irre hätte ich meiner Familie noch weniger geben können, besser so als abgeschoben.
    »Vertrauen Sie mir«, lächelt er.
    »Wohin nach Hause?«
    »Wollen Sie nicht nach Hause?«
    Ich setze mich auf.
    »Ich fühle mich hier gut«, sage ich.
    »Keine Sehnsucht nach Ihrem Sohn?«
    »Ich werde ihn bald sehen.«
    Er seufzt, er legt seine Mappe weg und beugt sich zu mir vor. Schiebt seine Brille auf die Stirn.
    »Wir müssen uns überlegen, wie wir Ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Nicht.«
    »Überlegen wir uns das.«
    »Sie müssen weg von der Straße, Diana. Denn wenn sich das nicht ändert, landen Sie über kurz oder lang wieder hier. Oder im Gefängnis.«
    »Wie stellen Sie sich das vor?«
    »Und wie stellen Sie sich das vor?«
    »Herr Doktor, das ist nicht fair, mich zu fragen, denn wenn ich die Antwort darauf wüsste, wäre ich nicht bei Ihnen.«
    Er lacht.
    »Aber das soll sich ja ändern, ich muss Sie also fragen. Nicht.«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sie brauchen einen steten Lebenswandel. Sie brauchen einen Job.«
    »Fein. Helfen Sie mir, einen zu finden.«
    Ich hebe den Kopf und schaue ihm direkt ins Gesicht, er zwinkert zum ersten Mal und wendet den Blick nach einiger Zeit ab.
    »Ich bin Therapeut und kein Arbeitsmarktberater.«
    Ich mache Anstalten, das Zimmer zu verlassen.
    »Bleiben Sie da, Diana.«
    Ich drehe mich um. Schließlich sagt er: »Ich werde versuchen, mir etwas zu überlegen. Bis morgen.«
    »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Ich werde versuchen, an Sie zu glauben.«
    Das kleine krallenbewehrte Tier in mir gähnt herzhaft und streckt seine Klauen aus. »Ich freue mich auf morgen.«
    *
    Ich gehe aus seinem Zimmer und weiche der Putzfrau am Gang aus, die einen riesigen dreistöckigen Wagen, bis nach obenhin angefüllt, vor sich herschiebt. Hier gibt es Putzmittel für den Boden, für die Wände, für die Wäsche und noch extra fürs Geschirr. Jeder Schmutz, den wir hier erzeugen, ist mit einer anderen Waffe zu schlagen, für alles gibt es ein Gegenmittel. Die Welt ist frisch und riecht sauber.
    Hinter dem Wägelchen spiegeln sich die Deckenlampen im glattgeschrubbten Boden, vor mir riecht es nach Krankenhaus und hinter mir nach Schwimmbad. Freischwimmen. Denke ich. Freischwimmen, wäre das schön.
    Die Putzfrau hat schwarzes Haar, in einem Knödel am Hinterkopf befestigt, sie lächelt, sie hat einen Goldzahn, und Haut, die fast so dunkel ist wie meine, nur eine Spur dunkler, aber meine Geschichte ist noch eine Spur dunkler als ihre Haut. Mehrere Male habe ich mich schon mit ihr unterhalten, wir haben unsere Namen ausgetauscht und unsere Vergangenheit größtenteils für uns behalten. Anna heißt sie.
    Anna ist während des Bosnienkrieges hierher geflohen, über von Bomben zerwühlte Erde, aus der Knochensplitter

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