Die Erdfresserin
Seite. Satin, denke ich, roter Satin, duftender roter Satin, der durch meine Berührung schmilzt, und dann schließe ich die Augen. Der rötliche Schimmer, der meine Lider von außen berührt, setzt sich hinter ihnen erneut fort. Mein inneres Rot ist das innere Rot der Rose. Ich spüre meine Wimpern den Rosenleib entlangstreichen, versuche, sie ruhig zu halten. Meine Lider sollen nicht ungeduldig flattern. Ich will ganz still sein, bewegungslos, versunken in ihr. Aufgehoben, umarmt. Gereinigt von ihrem Geruch.
Nach zwei Stunden fühle ich mich immer noch verzweifelt. Ich stehe auf, gehe ins Bad und schütte mir kaltes Wasser übers Gesicht, der Mund fühlt sich taub an, ich beiße in meine Lippe und spüre nichts. Lehne mich kurz an den Türrahmen, sehe mein Auge im Spiegel, geweitet, dunkel. Ich öffne das Fenster und werfe die nutzlose Blume auf die Straße hinaus, öffne mein Medikamentenschächtelchen, in dem meine geruhsamen Tage und Nächte aufgehoben sind in kleinen Zellen aus Plastik, ich öffne den Behälter und werfe den Inhalt in einer weiten Geste hinterher, die Pillen fallen als bunter Regen und verschwinden aus meinem Gesichtsfeld.
Es ist so weit.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
19
Ich packe meinen Rucksack, die paar Habseligkeiten haben spielerisch Platz darin, schleiche mich durch die Krankenzimmer meines Stockwerks und nehme mit, was unbeaufsichtigt herumliegt, Äpfel, Schokolade, ein Handy und zwei Geldbörsen. Als ich das Nachtkästchen im vorletzten Gangzimmer öffne, sehe ich Annas Gesicht durch das Bullauge in der Tür. Ich erstarre mit erhobener Hand. Wir sehen uns direkt in die Augen. Dunkelbraun in Dunkelbraun. Dann dreht sich ihr kugelrundes Gesicht langsam, langsam von mir weg und verschwindet aus dem Glasfenster, als wäre sie ein Planet mit unabänderlichem Orbit.
Ich lasse die Lade offen, ohne hineinzugreifen, drinnen rollt mit dumpfem Klirren noch ein silberner Gegenstand hin und her, der von der Wucht meiner Bewegung erschüttert worden ist. Vielleicht ein Schlüsselanhänger. Ich laufe zur Tür hinaus. Anna schiebt ihren Wagen langsam zurück, über den schon geschrubbten Boden, und sie schrubbt ihn voller Inbrunst ein zweites Mal, ohne sich noch einmal nach mir umzuwenden, die ich in dem verdreckten Bereich des Ganges stehen bleibe.
»Zweiter Fluchtweg offen«, sagt sie in den leeren Gang hinein.
Ich hetze zur gekennzeichneten Tür, in der noch ihr Schlüssel steckt, und stürme die nur von grünen Notlichtern erhellte Treppe hinab in die Dunkelheit.
*
Ich komme auf der Rückseite des Gebäudes raus, neben der Garageneinfahrt. Der Wind fühlt sich fremd an auf der Haut, die in der Luft der Klimaanlage trocken und faltig geworden ist. Die Autos, die Menschen, alle sind in Bewegung, die ich vergessen habe. Ich trotte los, füge mich in den Menschenstrom ein, gehe in ihm unter. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Ich passiere einen türkischen Laden, dessen Besitzer stolz zwischen den aufgetürmten Äpfeln und dem Gemüse im Eingang steht. Den grünen Haufen kleiner gewundener Gurken krönt ein schwarzes Schild, auf dem mit Kreide »Polen« geschrieben steht. Gleich daneben eine kleine koschere Bäckerei. Es duftet heraus. Ich würde gerne bei Juden kaufen , aber ich habe keine Zeit. Ich biege um die Ecke, die Gasse ist eng und menschenleer, das ist schlecht. Hier beginne ich zu laufen, meine Lunge hat viel Platz zum Atemholen, ich bin gut erholt und gepflegt. Ich laufe, ohne nach links und rechts zu schauen, ich streife einen Herrn in grünem Mantel, der ins Schwanken gerät und seine Ledertasche fast fallen lässt, er schimpft hinter mir her, ich laufe, laufe, laufe, bis ich einen Abgang zur U-Bahn am Ende der Straße erkenne, und mein Herz beruhigt sich erst ein wenig, als ich den Lift verlassen habe und in der abfahrenden Garnitur sitze, die silbernen Türen mit einem hohen Signalton hinter mir zugeschnappt sind. Ich lehne mich ans Fenster und lasse mich durch die Finsternis tragen, fahre bis zur Endstation und steige dann aus, steige wahllos in einen Bus und wieder aus und dann in eine Straßenbahn, bis ich in die U-Bahnlinie wechseln kann, deren Route ich besser kenne. Mein Hasenfluchtweg führt mich in eigenartigem Hakenschlag quer durch die Stadt, aus armen in wohlhabende Bezirke, über die stahlgraue Donau, in der sich ebenso stahlgraue Wolken spiegeln, und wieder zurück. Es gibt nur
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