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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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ragten, über Minenfelder und kalte Wälder, durch Flüsse, mit zwei Kindern links und rechts, ähnliche Wege ging sie wie ich.
    »Hallo«, sagt sie und lächelt breit und funkelt mich fröhlich mit ihrem Goldzahn an. Seit Tagen freut sich Anna schon, sie freut sich noch, wenn sie unser Erbrochenes wegwischen muss, unsere Windeln entsorgen, den Urin in den Ausfluss kippen.
    »Arbeit ist Arbeit«, hat Anna zu mir gesagt, ich habe ihr zugestimmt. »Arbeit ist gut.«
    »Hast du einen Mann, Anna«, fragte ich, um ihre Geschichte vollständiger imaginieren zu können.
    »Mann nicht«, hat Anna gelacht, immer noch sehr fröhlich. »Putzen.«
    Die Tochter hat vor kurzem ihre Ausbildung abgeschlossen, arbeitet seit mehreren Monaten. Anna sieht aus, wie jene Frau aussah, die ich im Nachbardorf gesehen habe, als ich den ersten Ausflug mit meiner Mutter unternahm, um Klopapier zu kaufen, die erste Reise, deren Ziel Sauberkeit gewesen ist, die Frau, die mit dem Weinkrug zu ihren Füßen am Holzschemel auf der Gasse vor ihrem Haus saß und blütenweiße bestickte Tischdecken anbot, sie saß da mit einem ebenso hellen Lächeln auf ihrem sonnengegerbten Gesicht. Anna passt genauso wenig hierher.
    Sie legt mir ihre Hand auf die Schulter. Ich nehme Schweiß und einen Schwall künstlicher Zitronen überdeutlich wahr. Annas reinigende Hand liegt auf meiner Haut, fühlt sich gut an. Lebendig. Sie ist immer noch stolz. Ich sehe sie an und spüre eine wilde Hoffnung in mir aufkeimen, dass auch mein Weg ein Ende finden könnte, hier, in Wien, hinter einem Wagen voller Putzmittel.
    Meinetwegen, es wäre mir recht. Kein Theater mehr.
    *
    Ich bitte die Schwester um Papier und Stift. Sie freut sich, dass ich aktiv werden möchte.
    »Malen Sie was Schönes«, sagt sie und gibt mir eine Plastikhülle mit halbrund gespitzten Buntstiften, die in den Farben des Regenbogens angeordnet sind. »Aber bitte nachher alles genauso einsortieren, ja?«
    Ich schließe die Tür meines Zimmers, das ich mit drei anderen geteilt habe, aber sie sind wieder weg, und ich habe immer noch Ruhe, endlich Ruhe. Ich schreibe einen langen, detaillierten Brief, ich bitte meine Schwester eindringlich, sich um Arbeit umzusehen, obwohl ich ahne, wie sinnlos dieses Unterfangen sein wird.
    »Ich kann nicht mehr«, schreibe ich, dann streiche ich den Satz, und damit keine Buchstaben durchscheinen, übermale ich ihn mit allen Farben des geborgten Regenbogens. Stattdessen schreibe ich: »Ich freue mich, euch wiederzusehen. Diana.«
    Ich lege mich vorsichtig auf mein von fremder Hand gemachtes Bett, lege mir ein Handtuch über die Augen und atme so, wie Dr. Petersen es mir gezeigt hat, in den Bauch hinein, aus dem Bauch heraus. Dann schlage ich mit meiner Hand sehr fest auf die Stirn, so fest, dass ich weiße Sterne hinter meinen geschlossenen Lidern sehe. »Schlag dir das aus dem Kopf«, sage ich laut und dresche nochmals hin, so wie meine Mutter es getan hat. »Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte sie und erledigte das gleich selbst, damit die frevelhaften Zeilen wieder aus ihm flogen. Das Begehren der Großstadtluft, die Ideen vom Studium, mein unnötiger Stolz.
    In drei Stunden habe ich meinen Termin bei Gott.
    Asyl brauchst du, sagte Anna, du brauchst Asyl. Dann kannst du hierbleiben wie ich. Arbeiten gehen. Kinder leben hier. Alles wird gut.
    »Was ist Asyl? Wie bekomme ich das?«, habe ich gefragt, ich hatte keine Ahnung. Anna hat, obwohl sie Asyl hat, auch nicht viel Ahnung, das gibt sie auch unumwunden zu.
    »Sozialarbeiterin«, sagt Anna. »Sozialarbeiterin und dann fragen.«
    Hierbleiben, das klingt für mich heute nur halb so verlockend wie gestern.
    *
    Ich betrete sein Zimmer in einer stockenden Aufregung, die mir den Hals zuschnürt. Etwas sagt mir, dass ich dieses Zimmer nicht mehr allzu oft betreten werde. Ein Teil von mir ist im Vorhinein traurig. Ein elender Teil. Ich komme hinein und pralle zurück. Meine Augen verengen sich zu Schlitzen. Ich gehe drei Schritte rückwärts, wieder aus der Tür hinaus, auf den Gang.
    Dieses Mal ist alles anders, neben seinem Ohrensessel steht noch eine Frau mit kurzem burschikosen Haarschnitt und buntbedrucktem grünen Leibchen. Sie ist eingedrungen, ohne dass er mich vorgewarnt hätte, mehr noch, er hat es mir verschwiegen. Er macht gemeinsame Sache mit ihr. Sie haben gerade miteinander gesprochen, sie blicken beide auf, ich halte mich am Türrahmen fest. Die Frau lächelt mich aufmunternd an. Sie hat schöne Zähne und dunkle

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