Die Erfinder des guten Geschmacks
Geschmacksverstärker gab es dort ebenso wenig wie Zusatzstoffe, die in industriellem Essen für Farbe, Form, Geschmack und Volumen sorgen.
Dieser Berufsethos schlug sich im Ehrenkodex der 1986 vom Franzosen Paul Bocuse und vom Belgier Pierre Romeyer gegründeten Organisation Euro-Toques nieder:
»Artikel 6
Euro-Toques-Chefs verteidigen gesunde Lebensmittel auf der Grundlage von Qualitätsprodukten.
Artikel 7
Euro-Toques-Chefs verteidigen natürliche Lebensmittel und traditionelle Rezepte, setzen sich für die Mannigfaltigkeit des europäischen kulinarischen Erbes ein und sichern den Fortbestand regionaler Produkte.
Artikel 8
Die in der Küche verwendeten Produkte sind frisch und werden an Ort und Stelle verarbeitet.
Artikel 9
Die verwendeten Produkte entsprechen der Jahreszeit, um den Naturzyklus zu achten und den echten Geschmack sicherzustellen.
Artikel 10
Euro-Toques-Chefs setzen sich für eine Vielzahl von Aromen und Zutaten ein. Sie zeigen dem Verbraucher gesunde Lebensmittel und tragen zu einer ausgewogenen Ernährung bei.
Artikel 11
Der Schutz, die Information und die Schulung der Verbraucher sind Teil des Auftrags von Euro-Toques.
Artikel 12
Die Wahrheit der Speisekarte ist ausschlaggebend für die Bewahrung des Vertrauens der Verbraucher.«
Bessere Restaurants waren »Gegenwelten« zur industriellen Ernährung. Nicht nur die »Euro-Toques-Köche« fühlten sich diesen Devisen verpflichtet. Gepflegt wurde eine Küchenvision, die stilübergreifend über Jahrhunderte hinweg ihre Gültigkeit hatte: Gute Küche beruht auf guten Zutaten. Gute Zutaten bewahren ihren Eigengeschmack.
Die Vision der Euro-Toques-Mitglieder und der großen Mehrzahl ihrer Kollegen hielt kaum länger als ein Jahrzehnt, dann wandten sich die gefeierten Köche von ihr ab und praktizierten – das Gegenteil.
Zusatzstoffe – Spitzenkochs neuer Liebling
Wer schon immer Appetit auf E 407, E 412, E 461, E 473, Polyglycerinester, Maltodextrin und das Klebeenzym Transglutaminase, abgerundet mit ein paar Geschmacksverstärkern, ein wenig Azofarbstoff und ein paar Aromen frisch aus den Laboren der Lebensmittelindustrie hatte, war auf einmal in »Spitzenrestaurants« an der richtigen Adresse.
Zusatzstoffe in jeder Küche – diese Mode begann mit einer Gruppe von Köchen, die sich mal als Molekularköche, mal als Avantgardeköche, mal als »techno-emotionale« Köche verkauften. Weil all das mächtig kompliziert klingt, nennen sie sich heute manchmal auch die New Naturals , die »neuen Natürlichen«. Das Essen, das sie aufkochten, sah aus wie aus einer anderen Welt: Nahrungsbälle, spiralförmige Speisen, perfekte Quader, eingeschlossen in halbtransparenten Blöcken, Melonenkaviar, Olivenöl-Spiralen, Creme vom Iberico-Schinken, allesamt ersonnen in der »Werkstatt« des Spaniers Ferran Adrià.
Adrià, geboren 1962 und damals noch den Vornamen Fernando tragend, gilt wie so viele seiner Berufskollegen der letzten 300 Jahre als Erfinder einer neuen Küche. Für die einen ist er der Erfinder der »Molekularküche«. Für die anderen »dekonstruierte« er die Küche, was er selbst 1999 im Gespräch mit folgenden Worten erklärte: »Ein dekonstruktives Gericht behält das Aroma seiner Zutaten, aber vertraute Elemente wie Präsentation oder Konsistenz werden entscheidend geändert.«
Rosas, die ehemalige Wirkungsstätte des Koches, ist ein recht langweiliger Badeort an der Costa Brava. Zu seinem Lokal El Bulli wiederum führte ein kilometerlanger Feldweg, in dessen Schlaglöchern man früher Ersatzreifen versenken konnte. MitHolzbalken und Rauputz, gemäßigt moderner Kunst und Toiletten weit außerhalb des Speisesaals war das Lokal keinesfalls besonders spektakulär.
Der junge Fernando kochte hier seit 1983; zuerst im Dienste einer deutschen Dame namens Schilling, später als Ko-Eigentümer mit Juli Soler. Zehn Jahre später konstruierte oder dekonstruierte er Gerichte, ansehnlich wie ein Miró. Wer bei Adrià speiste, bekam 26 oder mehr Gänge vorgesetzt. Seit er 2003 das Cover des Magazins der New York Times zierte, galt er als begehrtester, kreativster Koch der Welt.
Mehrfach wurde er vom britischen Restaurant Magazine zum weltbesten Koch gewählt. Zehntausende Menschen aus aller Welt bewarben sich um einen der 3000 freien Tischplätze jährlich. Wenn am 15. Januar die Reservierungsliste eröffnet wurde, war sie angeblich drei Stunden später voll. Der Meister empfing schließlich nur sechs Monate pro Jahr in seinem
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