Die Erfinder des guten Geschmacks
›Lebensmittelwissenschaft‹] schöpft aus vielen Disziplinen wie Biologie, Chemie und Biochemie im Versuch, die Verarbeitung von Lebensmitteln besser zu verstehen und letztlich Lebensmittel-Produkte für die breite Öffentlichkeit zu verbessern … Food Scientists studieren die physikalische, mikrobiologische und chemische Zusammensetzung von Lebensmitteln.«
So beschreibt das Institute of Food Technologies in Chicago die dort gelehrte Disziplin. Das Institut wurde 1939 gegründet, also 16 Jahre bevor Hervé This das Licht der Welt erblickte.
Was aber kann der Molekulargastronom, was der Food Scientist nicht lehren oder erklären kann?
Immerhin eröffnete sich ein Feld für neue Allianzen: Die Fondation Science & Culture Alimentaire, gegründet von Hervé This, verzeichnet unter ihren Gönnern sowohl Kochschulen als auch das Syndicat national des producteurs d’additifs (SYNPA, Verband der Zusatzstofferzeuger) und »Diana Naturals«, einen Global Player der Lebensmittelindustrie, zu dessen Sortiment »True Taste« Aromatisierungslösungen gehören. Und weil man sich in diesen Genießerkreisen kennt, hat »Diana Naturals« Ende 2012 von den Kollegen von Givaudan, die »Gemüse-, Wein- und Essigextrakte« übernommen.
Fortan arbeiteten die Köche mit Wissenschaftlern, Hervé This mit Pierre Gagnaire, Heston Blumenthal mit Peter Barham, einem Polymerforscher, der auch als Experte für die Identifikation und Lokalisation von Pinguinen gilt. Die viel gepriesenen »wissenschaftlichen Erkenntnisse« fielen jedoch spärlich aus. Das schrieb auch Peter Barham 2010 in den Chemical Reviews : »Bisher hat sich wenig ›neue Wissenschaft‹ herausgebildet, aber viele neuartige Anwendungen bestehender Wissenschaft wurden gefunden.«
Wissenschaftliche Beratung konnte nicht verhindern, dass 2009 in Heston Blumenthals Fat Duck mehr als 500 Gäste durch Noroviren erkrankten. Nach einer offiziellen Untersuchung wurde der Fall 2012 nochmals von neun Experten untersucht. Der Koch hätte spät gehandelt, Essen wäre von erkrankten Mitarbeitern zubereitet worden, hieß es. Das Fazit, veröffentlicht in Epidemiology and Infection , ist nüchtern: »Die Größe und die Dauer dieses Ausbruchs überschreiten alle anderen mit Restaurants assoziierten Norovirus-Ausbrüche in der veröffentlichten Literatur.« Ein Jahr später, 2013, erkrankten über 60 Gäste im dänischen Noma. Auch die Kunden der Top-Gastronomie waren vor den Nebenwirkungen unserer Lebensmittelwelt nicht mehr sicher.
Ohnehin stammten die »Kreationen« der neuen Superköche größtenteils nicht aus deren »Labors«, sondern aus dem steuerlich geförderten Projekt Inicon (Introduction of Innovative Technologies in Modern Gastronomy for Modernisation of Cooking). Das Forschungsprojekt wurde von der Europäischen Union mit 550 855 Euro gefördert. Partner wie Alpha-Tec (Deutschland), Cosmos Aromática (Spanien) und Iberagar (Portugal) steuerten nochmals 642 812 Euro bei. Im Rahmen des Inicon-Projektes entwickelten die Forscher vom ttz (Technologie-Transfer-Zentrum) in Bremerhaven von Januar 2003 bis Dezember 2005 »eine Serie von innovativen Formeln und Rezepten (zum Beispiel Food Leathers, heiße Instantgelees, pikante Süßigkeiten)« sowie »Entscheidungs- und Auswahlhilfen bezüglich Zutaten, Rohmaterialien und Techniken (zum Beispiel multiple Emulsionen)«. Inicon beschreibt unter anderem die Sphärifikation genannte Küchentechnik, bei der Nahrungsmittel dank Alginat und Kalzium zu halbfesten »Bällchen« werden, erklärt, wie auf Basis von Fonds (der Geschmacksrichtungen Paella, Wild oder Schinken) des Unternehmens Cosmos Aromática Zuckerwatte oder Gelees entstehen oder dass »Cosmofried flavours« der Geschmacksrichtungen Pizza, Anchovis, Barbecue oder Räucherlachs bei Niedrigtemperaturgarung um die 50 °C eingesetzt werden können.
Der Griff zur Lebensmittelchemie war Alltag im Projekt Inicon. So wurde zum Beispiel im Themenbereich »Aromen« der Einsatz von Mononatriumglutamat (MSG), Adenosinmonophosphat (AMP) und Inosinmonophosphate (IMP) empfohlen. Die Küchenchefs sollten demnach »die Kühlwirkung des Zuckeralkohols (analog zu Menthol, aber ohne den Minzegeschmack) wie Erythrit, Xylit oder Sorbit« nutzen. Auch die Produkte des Sponsors Cosmos Aromática wurden verwendet, etwa die »Cosmofried«-Grillaromen Olivenöl, Räucherlachs, Leberpastete, Barbecue, Grillhuhn oder Pizza.
Ob »falscher Kaviar«, sphärenförmige Häppchen, flüssige
Weitere Kostenlose Bücher