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Die Erfinder des guten Geschmacks

Die Erfinder des guten Geschmacks

Titel: Die Erfinder des guten Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Zipprick
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Gourmet’s Guide erschien 1903, die Recherchen fanden entsprechend früher statt. Der damalige Führer eines bekannten Reifenfabrikanten führte damals noch sternelos zu Werkstätten und Hotels für den abenteuerlustigen Automobil-Pionier. Sicher, die meisten Lokale gibt es nicht mehr, andere haben sich stark verändert. Doch wenn man in den mehr als 233 Seiten schmökert, gewinnt man mehr und mehr den Eindruck, dass Städte und Länder generationenübergreifend eine kulinarische Prägung besitzen. Die Pariser Institutionen besuchte man schon vor 104 Jahren nur, weil sie vor Jahrzehnteneinen guten Ruf besessen hatten. In Brüssel liegen die besten Adressen nach wie vor nicht gerade an der Grand Place. Und trotz einiger britischer Seitenhiebe schien man im deutschen Sprachraum 1903 gut gegessen zu haben. In Wien etwa waren »Rostbraten und das Wiener Schnitzel weltberühmt […] und das typische Wiener Abendessen ein gutes französisches Diner mit delikatem Brot und leichter Patisserie«. »Übernachten Sie, wo Sie wollen, aber speisen Sie im Bristol«, raten die Autoren. Das Sacher hingegen sei »sehr teuer […] aber in seiner Küche nicht ausschließlich französisch«. In Berlin schmeckte es den beiden etwas weniger gut: »Vor 20 Jahren hatte Berlin kein Restaurant, das diesen Namen verdient hätte, jetzt selbstverständlich gibt es reichlich; in vielen Fällen jedoch scheinen auffällige Gemälde, schlechte Vergoldung und schwere Dekorationen den Geschmack eines bestimmten Publikums für minderwertiges Ambiente und mittelmäßiges Kochen zu bedienen.« In München sollte man »das Hofbräuhaus besuchen, um ein Bier, wie man es sich besser nicht wünschen könnte, zu genießen.«
    Kein Verleger würde heute das Wagnis eingehen, einen Restaurantführer zu veröffentlichen, der Lokale von Jerez de la Frontera bis nach St. Petersburg bewertet. Die Tatsache, dass Newnham-Davis und Bastard sich dennoch an das enorme Unterfangen wagten und als Basis ihrer Recherche die Empfehlungen anderer Reisender nutzen konnten, zeigt, wie viele Menschen damals schon quer durch Europa reisten.
    Mit teils epischen Beschreibungen der Lokale und ironischen Seitenhieben zu Landesküchen verfassten Newnham-Davis und Bastard einen Guide, der weit informativer war als der Michelin mit seinem klar verständlichen, aber extrem reduzierenden »Ein-, Zwei-, Drei-Sterne-System«, das erst Jahrzehnte später erscheinen sollte.
    Zwar schufen André und Édouard Michelin ihren Guide schon im Jahr 1900 zur Weltausstellung. Damals freilich war er eine Werbebeigabe für die raren Automobilistes . Ganze 2400 Exemplare dieser Spezies gab es in Frankreich. Denen bot der Guide nützliche Informationen: Stadtpläne, Sehenswürdigkeiten, Adressen von Spezialisten, die Reifen flickten und Automobile reparierten, sowie Anschriften von Hotels und Restaurants. Erst seit dem Jahr 1920 wurde der Michelin zum bezahlten Druckwerk, angeblich weil André Michelin wehrlos mit ansehen musste, wie eine Truppe Mechaniker einen Stapel Guides nutzte, um eine Achse zu stützen. Die ersten Sterne wurden erst 1926 vergeben, das Drei-Sterne-System führte der Guide 1931 ein. Was würden Kunstfreunde wohl zu einem »großen Guide der Malerei« sagen, der Picasso, van Gogh, Dali, Schiele, Kandinsky, Modigliani, Warhol und da Vinci mit ein bis drei Pinseln auszeichnet?
    Die Briten Newnham-Davis und Bastard ließen hingegen in ihrem Gourmet’s Guide to Europe den Lesern das Wasser im Munde zusammenlaufen. Wer hätte nach ihrer Schilderung nicht beim großen deutschen Koch Franz Pfordte (1840-1917) einkehren wollen?
    Nun muss getrunken werden… Hier wusste das knuffige Michelinmännchen noch nicht, dass es einmal zum Maskottchen eines Restaurantführers reifen sollte.
Der wunderbare Pfordte
    »In Hamburg findet man Pfordtes Restaurant […] das eine europäische Reputation hat, man bezeichnet es als das ›Paillard‹ [das zu dieser Zeit bekannteste Pariser Restaurant] von Norddeutschland. Die folgende Beschreibung des Restaurants stammt aus der Feder eines englischen Stammgasts des Hauses: […] Pfordte ist ein Mann von kleiner Statur, aber sehr höflich und mit exzellenten Manieren und keine Ausnahme von der Regel, dass kleine Männer über große Gehirne verfügen. Sein Restaurant ist facile princeps aller Häuser der Unterhaltung in Hamburg, wo Reichtum im Überfluss herrscht und Aufheiterung wissenschaftlich gewürdigt wird. Wer das Lokal von der Straße betritt, findet

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