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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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da war ich schon etwas älter, fuhr ich mit ihm durch Jersey City und sah auf der Straße einen Jungen in einem T-Shirt, das mir ein paar Monate zuvor zu klein geworden war. Es war ein sehr auffälliges T-Shirt, mit einer eigenartigen Kombination von gelben und blauen Streifen, und es bestand kein Zweifel, dass dies mein abgelegtes Hemd war. Unerklärlicherweise überkam mich da ein Schamgefühl.
    Als ich noch älter war, mit dreizehn, vierzehn, fünfzehn, ließ ich mir zum Geldverdienen irgendwelche Jobs von ihm geben und arbeitete mit den Zimmerleuten, Anstreichern und Reparaturkolonnen. An einem fürchterlich heißen Tag im Hochsommer bekam ich einmal den Auftrag, einem der Männer beim Teeren eines Dachs zu helfen. Der Mann hieß Joe Levine (ein Schwarzer, der seinen Namen aus Dankbarkeit gegen einen alten jüdischen Lebensmittelhändler, der ihm in seiner Jugend geholfen hatte, in Levine geändert hatte), und er war der treueste und zuverlässigste Handlanger meines Vaters. Wir schleppten etliche 200-Liter-Fässer Teer auf das Dach und fingen dann an, das Zeug mit Besen zu verteilen. Die Sonne brannte brutal auf das schwarze Flachdach nieder, und nach etwa einer halben Stunde wurde mir so schwindlig, dass ich auf einem feuchten Stück Teer ausglitt und hinfiel; dabei stieß ich eins der offenen Fässer um, und der Teer schwappte über mich.
    Als ich ein paar Minuten später ins Büro kam, reagierte mein Vater sehr amüsiert. Auch ich merkte, dass die Situation amüsant war, aber das Ganze war mir zu peinlich, als dass ich darüber hätte witzeln wollen. Immerhin wurde mein Vater weder wütend, noch machte er sich über mich lustig. Er lachte, aber so, dass auch ich lachen musste. Dann ließ er seine Arbeit liegen, ging mit mir zu Woolworth auf der anderen Straßenseite und kaufte mir neue Kleider. Mit einem Mal war es mir möglich geworden, mich ihm nahe zu fühlen.

    Im Lauf der Jahre begann das Geschäft abzuflauen. Aber das lag nicht am Geschäft selbst, sondern an seiner Eigenart: zu jener Zeit und an jenem Ort hatte es keine Überlebenschancen mehr. Die Städte verfielen, und niemand schien sich etwas daraus zu machen. Was für meinen Vater einst eine mehr oder weniger erfüllende Betätigung gewesen war, wurde nun zu stumpfsinniger Plackerei. In seinen letzten Lebensjahren hasste er es, zur Arbeit zu gehen.
    Der Vandalismus wurde zu einem so ernsten Problem, dass jegliche Reparaturarbeiten zu entmutigenden Gesten verkamen. Kaum waren die Klempnerarbeiten in einem Haus abgeschlossen, wurden die Rohre auch schon von Dieben herausgerissen. Ständig wurden Fenster zerbrochen, Türen zerschlagen, Flure geplündert, Brände gelegt. Gleichzeitig war es unmöglich, die Häuser zu verkaufen. Niemand wollte sie haben. Die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden, bestand darin, sie einfach preiszugeben und den Städten zu überlassen. Ungeheure Geldbeträge gingen auf diese Weise verloren, die Arbeit eines ganzen Lebens. Am Ende, als mein Vater starb, waren nur noch sechs oder sieben Häuser übrig. Das ganze Imperium hatte sich aufgelöst.
    Als ich das letzte Mal in Jersey City war (mindestens zehn Jahre ist das her), sah die Gegend wie ein Katastrophengebiet aus, als wenn dort die Hunnen gehaust hätten. Die Straßen grau und verlassen; überall Müllberge; Obdachlose, die ziellos herumschlurften. Das Büro meines Vaters hatte so viele Raubüberfälle erlebt, dass inzwischen nichts mehr darin übrig war als ein paar graue Metalltische, einige Stühle und drei oder vier Telefone. Nicht einmal eine Schreibmaschine und kein bisschen Farbe. Eigentlich war es kein Arbeitsplatz mehr, sondern ein Raum in der Hölle. Ich setzte mich und sah nach der Bank auf der anderen Straßenseite. Niemand kam heraus, niemand ging hinein. Die einzigen Lebewesen waren zwei streunende Hunde, die auf der Treppe kopulierten.
    Wie er es geschafft hat, sich jeden Tag aufzuraffen und dorthin zu gehen, ist mir ein völliges Rätsel. Zwang der Gewohnheit, oder pure Sturheit. Es war ja nicht nur deprimierend, sondern auch gefährlich. Er wurde mehrmals überfallen, und einmal bekam er von einem Angreifer einen so bösen Tritt an den Kopf, dass sein Gehör auf Dauer geschädigt wurde. In den letzten vier oder fünf Jahren seines Lebens hatte er ständig ein leises Klingeln in seinem Kopf, ein Summen, das nie aufhörte, auch nicht im Schlaf. Die Ärzte sagten, daran ließe sich nichts ändern.
    Am Ende ging er nur noch mit einem Schraubenschlüssel

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