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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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in der rechten Hand auf die Straße. Er war über fünfundsechzig Jahre alt, und er wollte nichts mehr riskieren.

    Zwei Sätze, die mir heute Morgen plötzlich in den Sinn kommen, als ich Daniel zeige, wie man Rührei macht.
    «‹Und jetzt will ich wissen›, sagt die Frau mit furchtbarem Nachdruck, ‹jetzt will ich wissen, ob es möglich ist, irgendwo auf der Welt noch einen solchen Vater zu finden wie ihn.›» (Isaac Babel)
    «Kinder neigen stets dazu, ihre Eltern entweder zu tadeln oder zu preisen, und für einen guten Sohn ist sein Vater stets der beste aller Väter, ganz unabhängig von irgendeinem objektivem Grund, den es geben mag, ihn zu bewundern.» (Proust)

    Ich erkenne jetzt, dass ich ein schlechter Sohn gewesen sein muss. Oder wenn nicht direkt schlecht, dann zumindest enttäuschend, ein Quell der Verwirrung und Traurigkeit. Es war ihm unverständlich, dass er einen Dichter zum Sohn bekommen hatte. Ebenso wenig begriff er, wie sich ein junger Mann, der an der Columbia University zwei Studiengänge abgeschlossen hatte, nach seinem Examen als Leichtmatrose auf einem Öltanker im Golf von Mexiko verdingen und im Anschluss daran ohne Ziel und Zweck nach Paris gehen konnte, um dort vier Jahre lang von der Hand in den Mund zu leben.
    Oft sagte er zu mir, ich hätte «den Kopf in den Wolken», oder auch, ich stünde «mit meinen Füßen nicht auf dem Boden». Wie auch immer, ich kann ihm nicht sehr wesenhaft vorgekommen sein, eher nebelhaft oder wie nicht ganz von dieser Welt. In seinen Augen wurde man zu einem Teil der Welt, wenn man arbeitete. Arbeit war definitionsgemäß etwas, das Geld einbrachte. Wenn es das nicht tat, war es keine Arbeit. Schreiben war daher keine Arbeit, zumal das Schreiben von Gedichten. Bestenfalls war es ein Hobby, eine angenehme Art, sich zwischen den wirklich wichtigen Tätigkeiten die Zeit zu vertreiben. Mein Vater glaubte, ich vergeude meine Talente und wolle einfach nicht erwachsen werden.
    Gleichwohl riss die Verbindung zwischen uns nicht ganz ab. Wir waren einander nicht nahe, hielten aber Kontakt. Etwa einmal im Monat ein Telefongespräch, drei oder vier Besuche im Jahr. Jedes Mal wenn einer meiner Gedichtbände erschien, schickte ich ihm pflichtbewusst ein Exemplar zu, wofür er sich jedes Mal telefonisch bedankte. Jedes Mal wenn ich einen Artikel für eine Zeitschrift schrieb, legte ich ein Heft beiseite und gab es ihm, wenn ich ihn das nächste Mal sah. Die New York Review of Books bedeutete ihm nichts, aber die Artikel in Commentary beeindruckten ihn. Ich glaube, er hatte das Gefühl, dass doch etwas daran sein musste, wenn die Juden mich veröffentlichten.
    Einmal, als ich noch in Paris lebte, schrieb er mir, er sei in die öffentliche Bücherei gegangen, um ein paar meiner Gedichte zu lesen, die vor kurzem in Poetry erschienen waren. Ich stellte mir vor, wie er frühmorgens, bevor er zur Arbeit ging, in einem großen, menschenleeren Saal an einem dieser langen Tische saß: den Mantel noch an, über Worte gebeugt, die ihm ganz unverständlich gewesen sein müssen.
    Ich habe versucht, dieses Bild im Gedächtnis zu behalten, zusammen mit all den anderen, die mich nicht verlassen werden.

    Die wuchernde, völlig verwirrende Kraft des Widerspruchs. Ich verstehe jetzt, dass jede Tatsache von der nächsten aufgehoben wird, dass jeder Gedanke einen gleichwertigen, aber entgegengesetzten erzeugt. Unmöglich, irgendetwas ohne Vorbehalt zu sagen: Er war gut, beziehungsweise er war schlecht; er war dies, beziehungsweise er war das. Alles davon ist wahr. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich über drei oder vier verschiedene Männer schreibe, jeder ein Individuum, jeder im Widerspruch zu allen anderen. Fragmente. Oder die Anekdote als Form des Wissens.
    Ja.

    Das vereinzelte Aufblitzen von Großzügigkeit. Bei solchen seltenen Gelegenheiten, wenn die Welt keine Bedrohung für ihn darstellte, schien Freundlichkeit sein Lebenszweck. «Möge der liebe Gott Sie immer segnen.»
    Wenn seine Freunde in Schwierigkeiten waren, riefen sie ihn an. Mitten in der Nacht war irgendwo ein Wagen liegengeblieben, und mein Vater schleppte sich aus dem Bett, um Hilfe zu bringen. In gewisser Hinsicht war er von anderen leicht auszunutzen. Er beklagte sich nie.
    Eine Geduld, die ans Übermenschliche grenzte. Er war der einzige Mensch, den ich je gekannt habe, der jemandem das Autofahren beibringen konnte, ohne wütend zu werden oder in Panik zu geraten. Man konnte direkt auf eine Straßenlaterne

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