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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ein Bier. Dann setzte er seinen Spaziergang fort. Als er die Tür zu seinem Zimmer aufmachte, war es kurz vor elf. In dieser Nacht träumte er zum ersten Mal in seinem Leben, er wäre tot. Während des Traums wachte er zweimal zitternd vor Panik auf. Jedes Mal versuchte er sich zu beruhigen, indem er sich sagte, er brauche nur seine Lage im Bett zu ändern, dann werde der Traum aufhören, und beide Male fing der Traum, sobald er von neuem eingeschlafen war, genau an der Stelle wieder an, an der er unterbrochen worden war.
    Genaugenommen ging es nicht darum, dass er tot war, sondern dass er sterben sollte. Das stand als absolute Tatsache fest. Er lag mit irgendeiner tödlichen Krankheit in einem Krankenhausbett. Stellenweise war ihm das Haar ausgefallen, und sein Schädel war zur Hälfte kahl. Zwei weißgekleidete Krankenschwestern kamen ins Zimmer und sagten zu ihm: «Sie werden heute sterben. Es ist zu spät, wir können Ihnen nicht mehr helfen.» Ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber hatte etwas Mechanisches. Er schrie und flehte sie an: «Ich bin zu jung zum Sterben, ich will jetzt noch nicht sterben.» – «Es ist zu spät», erwiderten die Krankenschwestern. «Wir müssen Ihnen jetzt den Kopf rasieren.» Während ihm die Tränen aus den Augen stürzten, ließ er sich von ihnen den Kopf rasieren. Anschließend sagten sie: «Der Sarg steht dort drüben. Gehen Sie nur und legen sich hinein, schließen Sie die Augen, und bald sind Sie tot.» Er wollte weglaufen. Aber er wusste, es war nicht gestattet, sich ihren Anweisungen zu widersetzen. Also ging er zu dem Sarg und stieg hinein. Über ihm wurde der Deckel zugemacht, aber sobald er drinnen war, behielt er die Augen offen.
    Dann erwachte er zum ersten Mal.
    Als er wieder eingeschlafen war, stieg er gerade aus dem Sarg. Er trug das weiße Hemd der Patienten, aber keine Schuhe. Er verließ das Zimmer, wanderte lange durch etliche Korridore und fand schließlich den Weg aus dem Krankenhaus. Wenig später klopfte er an die Tür des Hauses seiner ehemaligen Frau. «Ich muss heute sterben», sagte er zu ihr, «und ich kann nichts daran ändern.» Sie nahm diese Nachricht gelassen auf und benahm sich nicht viel anders als die Krankenschwestern. Aber er war nicht gekommen, um sich von ihr bemitleiden zu lassen. Er wollte ihr Anweisungen geben, was sie mit seinen Manuskripten tun sollte. Er ging eine lange Liste seiner Schriften durch und sagte ihr, wie und wo jedes Einzelne davon zu veröffentlichen sei. Dann sagte er: «Das Buch der Erinnerung ist noch nicht fertig. Ich kann’s nicht ändern. Mir bleibt keine Zeit mehr, es zu beenden. Schreib du es für mich zu Ende, und dann gib es Daniel. Ich vertraue dir. Du schreibst es für mich zu Ende.» Sie erklärte sich damit einverstanden, wenn auch nicht gerade begeistert. Und dann schrie er wie schon zuvor: «Ich bin zu jung zum Sterben. Ich will jetzt noch nicht sterben.» Aber sie erklärte ihm geduldig, dass er sich damit abzufinden habe, wenn es denn so sei. Darauf verließ er ihr Haus und kehrte zum Krankenhaus zurück. Als er auf dem Parkplatz ankam, erwachte er zum zweiten Mal.
    Als er eingeschlafen war, befand er sich wieder im Krankenhaus, in einem Kellerraum neben dem Leichensaal. Der Raum war groß, kahl und weiß, wie eine altmodische Küche. Einige seiner Kindheitsfreunde saßen als Erwachsene um einen Tisch und verspeisten ein üppiges Mahl. Als er den Raum betrat, drehten sie sich um und starrten ihn an. Er erklärte ihnen: «Hier, man hat mir den Kopf rasiert. Ich muss heute sterben, und ich will nicht sterben.» Diese Worte bewegten seine Freunde. Sie forderten ihn auf, sich zu ihnen zu setzen und an ihrer Mahlzeit teilzunehmen. «Nein», sagte er, «ich kann nicht mit euch essen. Ich muss nach nebenan und sterben.» Er zeigte auf eine weiße Schwingtür mit einem kreisrunden Fenster. Seine Freunde erhoben sich von ihren Stühlen und folgten ihm an die Tür. Eine Zeitlang schwelgten sie in Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit. Es beruhigte ihn, mit ihnen zu reden, zugleich aber fiel es ihm immer schwerer, den Mut aufzubringen und durch die Tür zu gehen. Schließlich verkündete er: «Ich muss jetzt gehen. Ich muss jetzt sterben.» Tränenüberströmt umarmte er nacheinander seine Freunde, drückte sie mit aller Kraft an sich und sagte ihnen Lebwohl.
    Dann erwachte er zum letzten Mal.

    Schlusssätze für das Buch der Erinnerung.
    Aus einem Brief von Nadeschda Mandelstam an Ossip Mandelstam, datiert

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