Die Erfindung des Abschieds /
sie sind!«
Der Fingernagel ihres rechten Ringfingers brach ab, und Kirsten ballte die Faust, damit niemand das Missgeschick bemerkte. Gleich, als die rothaarige Journalistin hereingekommen war, hatte Kirsten ihre Schürze abgelegt und sich die Haare gekämmt. Sie wollte noch ihre grünen Leggings ausziehen, aber die Journalistin meinte, das wäre nicht nötig, also hatte sie sich auf die Couch gesetzt und abgewartet. Seit Tagen nahm sie keine Tabletten mehr, das war gut. Schlecht war, dass sie keinen Hunger mehr hatte, sie brachte nichts runter, obwohl Hans, ihr Freund, auf sie einredete und sie zwingen wollte, etwas zu essen, wenigstens ein Wurstbrot oder eine Suppe, die er umständlich für sie zubereitete. Wenn sie das Essen bloß roch, wurde ihr übel. Sie war blass und fror. Es war ihr peinlich, ins Fernsehen zu kommen, aber Thomas hatte ihr keine Wahl gelassen. Dieser Polizist Funkel hatte ihnen geraten, nicht mit der Presse zu sprechen, und daran hatten sie sich auch gehalten, man weiß ja, was die dann schreiben und wie die da alles manipulieren, was man im guten Glauben erzählt hat; aber die Zurückhaltung hatte nichts gebracht, das war bloß ein Bluff gewesen, mit dem die Polizei sie hingehalten hat und ablenken wollte von ihrer eigenen Unfähigkeit. Da hatte Thomas schon Recht, die nehmen uns nicht wichtig genug, weil wir bloß eine getrennte Familie sind, in der der Mann arbeitslos ist und die Mutter eine Aushilfsschneiderin, die denken, da ist das kein Wunder, dass der Sohn wegläuft, weil er mal was erleben und in den Ferien nicht zu Hause rumhocken möchte, wenn alle seine Freunde am Meer oder sonst wo sind; wenn wir berühmt wären wie damals das Ehepaar Simon, dann wär der Raphael schon längst wieder da, er ist ja nicht entführt worden wie die Lucia, das glaub ich nicht, er hat den Tod seines Opas nicht verkraftet, und ich hab ihm nicht helfen können, ich hab ihm nicht helfen können, ich bin schuld, und ich weiß nicht, wie ich das wieder gutmachen soll …
»Frau Vogel? Ich möchte Sie was fragen …« Nicole Sorek hatte etwas lauter gesprochen, und Kirsten sah sie verstört an. »Gab es außer dem Tod seines Großvaters etwas, das Raphael veranlasst haben könnte, wegzulaufen, ein anderes Ereignis, irgendetwas, das ihn durcheinander gebracht hat, das er nicht verkraftet hat?«
»Nein!«, blaffte Vogel.
Kirsten blickte zu Boden, vergrub die linke Faust in der Kuhle der rechten Hand und presste die Knie fest aneinander.
Der Kameramann filmte ihr Gesicht, schwenkte auf ihre verkrampften Hände, zoomte zurück und hatte beide im Bild, das Ehepaar Vogel, zwei ausgemergelte Gestalten, die sich nichts zu sagen hatten, nicht einmal angesichts des tragischen Verschwindens ihres Sohnes, ein Bild des Jammers, zwei Menschen wie du und ich, mit denen sich jedermann identifizieren konnte; der Kameramann war sehr zufrieden.
»Frau Vogel?«, fragte die Sorek, diesmal wieder mit leiser Stimme. Sprich, Alte!, dachte sie, wir haben hier nicht ewig Zeit, Schweigen senden ist Scheiße.
»Ja …«, sagte Kirsten gedehnt, »es ist … es ist … er durfte nicht in die Ferien fahren, wir haben kein Geld, wissen Sie …«
»Ist doch Unsinn, totaler Unsinn, meine Frau ist verwirrt, Frau … Frau!« Ihm fiel der Name nicht ein, und er starrte Nicole so intensiv an, dass sie wegschaute und sich auf Kirsten konzentrierte, die ihre Faust in der Hand rieb wie einen Stößel im Mörser.
»Wohin wollte Ihr Sohn denn gerne in die Ferien fahren?«, fragte Nicole Sorek.
»Wohin?«, flüsterte Kirsten. »Weiß nicht. Vielleicht ans Meer, wie alle Kinder, ans Meer …«
An der Wohnungstür rasselte ein Schlüssel, und jemand kam herein.
»Ich bin’s, alles klar, Vögelchen?«, ertönte eine tiefe Stimme.
Nicole Sorek und ihr Kameramann fuhren herum und sahen einen Mann in einer von Nieten übersäten blauen Jeansjacke.
»Besuch!«, stieß Hans Garbo atemlos hervor. »Das Fernsehen persönlich!«
Mit einem Satz sprang Vogel auf und stürzte sich auf ihn.
»Du Drecksau, hau ab, du!«, schrie er, packte Garbo am Hals und würgte ihn. Garbo hatte nicht viel Mühe, den schmächtigen Angreifer abzuschütteln, er hielt ihn an den Ohren fest und drückte ihn gegen die Wand.
Nicole Sorek und der Kameramann waren ebenfalls aufgesprungen und stiegen über ihren Tonkollegen hinweg, um nichts zu verpassen. Garbo drückte Vogel wortlos gegen die Wand und wusste nicht, was er sonst noch tun sollte. Ausdruckslos
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