Die Erfindung des Abschieds /
strich die Scheine glatt und steckte sie in die Seitentasche des Rucksacks, den er sich über die Schulter schwang. Dann setzte er die blaue Brille auf.
»Wo willst du denn jetzt hin?«, fragte Sunny und berührte sehr galant seinen Arm.
»Verrat ich nicht, dann müsst ihr nicht lügen, wenn die Polizei euch fragt.«
»Ich verrat bestimmt nichts«, sagte Aras.
»Ich auch nicht!«, sagte Sunny und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie dieser Polizistin die Sache mit dem Brief erzählt hatte. Hoffentlich erkundigte sich Raphael nicht danach.
»Hast du jemandem von dem Brief erzählt?«, fragte er.
»Spinnst du?«, sagte sie.
»Super. Danke, dass ihr gleich gekommen seid! Ihr seid meine besten Freunde.« Er umarmte zuerst Aras, was Sunny in einen Zustand hysterischer Ungeduld versetzte, und dann sie, wobei sie ihn auf den Hals küsste, was ihn erschreckte, obwohl sie das nicht zum ersten Mal bei ihm machte.
»Willst du nicht doch bei deiner Mama anrufen?«, fragte Aras und schaute sich um: Der Fahrer des weißen BMW spielte an seinem Handy herum und blickte zur Einfahrt, als erwarte er jemanden.
»Hab schon angerufen«, sagte Raphael, »bei meinem Vater und bei meiner Mutter, denen ist das egal, was ich mach, die sind mit sich selber beschäftigt …«
»Das kenn ich«, sagte Sunny.
Aras bemerkte einen weiteren Wagen, der jetzt näher kam und direkt auf die Skaterhalle zusteuerte. Der Mann mit dem Handy lief hinterher.
»Das sind bestimmt Polizisten!«, rief Sunny, und Raphael wirbelte herum. Ein Mann und eine Frau stiegen aus und sahen die Kinder an. Raphael begriff sofort, dass es Polizisten waren, und spurtete los. Quer über den Parkplatz in Richtung Straße. Und Tabor Süden rannte hinter ihm her.
»Das war eine gute Idee von Tabor, die beiden Kinder beobachten zu lassen. Ich hätte nicht gedacht, dass der Junge noch mal mit ihnen Kontakt aufnimmt«, sagte Josef Braga, der sich neben Sonja Feyerabend stellte und zusah, wie ihr Kollege den Jungen einholte und festhielt. Sven Gerke war im Wagen sitzen geblieben und verfolgte von dort aus das Geschehen.
»Lass mich los, ich geh nicht mehr nach Hause, lass mich los!«, kreischte Raphael und schlug um sich. Süden ließ ihn ein paar Sekunden gewähren, dann verpasste er ihm eine Ohrfeige, die den Jungen zu Boden warf.
»Entschuldige«, sagte Süden und kniete sich neben ihn.
»Wer sind Sie?« Mit großer Anstrengung unterdrückte Raphael seine Tränen.
»Ich bin Polizist, ich heiß Tabor Süden.«
»Na und?« Raphael zog eine Schnute. Hinter dem Polizisten sah er seine Freunde, die von der Frau und dem Mann ausgefragt wurden, und sie antworteten auch noch! Verräter!
»Lass uns nach Hause zu deiner Mutter fahren, Raphael«, sagte Süden.
»Nein.«
»Sie vermisst dich sehr.«
»Tut sie nicht!«
»Doch, Raphael, sie ist krank vor Angst um dich.«
»Ich bin auch krank.«
»Das weiß ich.«
»Woher willst ’n du das wissen? Du bist doch Polizist.«
»Ich war auch mal so wie du, als Kind, genauso wie du.«
»Glaub ich nicht, du willst mich bloß austricksen, Polizisten tricksen immer die Leute aus, das weiß ich.«
»Du darfst nicht alles glauben, was du im Fernsehen siehst.«
»Warum denn nicht?«
»Weil es nicht stimmt.«
»Na und?«
Süden lächelte. Er griff nach Raphaels Hand, sie war kalt und nass wie der Asphalt, auf dem sie hockten.
»Ich bin froh, dass ich dich gefunden hab«, sagte Süden und hob die blaue Sonnenbrille auf, die der Junge beim Laufen verloren hatte. »Hier, das ist deine.«
Raphael setzte sie auf und senkte den Kopf.
»Kommst du mit zu mir?«, fragte er mit dünner Stimme.
»Ja.«
»Sonst schlägt mich mein Vater wieder, das macht er immer, wenn ich was angestellt hab. Und meine Mutter schaut zu.«
»Hab keine Angst, Raphael.«
»Ich hab aber Angst. Ich hab aber Angst!« Unter den blauen Kunststoffgläsern der Brille rannen Tränen hervor, und Tabor Süden fragte sich, wie er es verhindern sollte, dass Thomas Vogel seinen Sohn verprügelte.
»Ich bin bei dir«, sagte Süden. Es war lange her, dass er ein Kind belogen hatte.
Eine halbe Stunde später öffnete sich eine Wohnungstür am Mühler Weg in München-Pasing, und Kirsten Vogel schloss ihren Sohn in die Arme. Sie weinte, streichelte sein Gesicht, küsste ihn, drückte ihn an sich, küsste ihn noch stürmischer, wischte sich die Tränen ab, betrachtete ihn aus verquollenen Augen und fing wieder von vorne an.
Hans Garbo, barfuß, in der
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