Die Erfindung des Abschieds /
schaute er in die Kamera. Dann ließ er Vogel los, der sofort zuschlagen wollte, aber Garbo kniff ihm mit Daumen und Zeigefinger die Nase zusammen und sagte launig: »Kein Stress, Genosse, nett, dass du hier das Publikum unterhältst, aber jetzt bin ich ja wieder da.«
»Wer sind Sie?«, fragte Nicole Sorek, und ihr Herz schlug höher, wenn sie an die Actionszene dachte, die sie soeben live gefilmt hatten.
»Ich bin der Freund von der Frau Vogel, wir wohnen praktisch zusammen, und wer sind Sie? Ah, ich kenn Sie,
Vor Ort,
stimmt’s, da sind Sie hier richtig, vor Ort, einen besseren Ort gibt’s nicht, Fräulein.«
»Irgendwann erwisch ich dich, du Sau!«, sagte Vogel und richtete sein Hemd und die Krawatte.
»Ich bin hier, Meister!«, sagte Garbo, zeigte auf seine Brust und ging ins Wohnzimmer. Er nickte dem jungen Mann mit dem Mikrofon zu, setzte sich neben Kirsten und legte ihr den Arm um die Schulter. »Hast du was gegessen, Vögelchen?«
Sie schüttelte den Kopf und traute sich in der Gegenwart der fremden Leute nicht, sich an ihn zu lehnen.
»Ich koch dir Nudeln, kein Problem, Fastenzeit ist erst nächstes Jahr wieder, alles klar, Schätzchen?«
Er drückte sie an sich, und sie machte sich steif.
»Hören Sie, Fräulein …«, sagte er zur Reporterin, die ihren Kameramann wortlos anwies, das Liebespaar auf der Couch in allen Variationen zu filmen. »Diese Frau hier, meine Freundin, hat Kummer, ihr Sohn ist weggelaufen und treibt sich jetzt irgendwo allein in der Stadt rum. Zeigen Sie sein Bild im Fernsehen, und dann gibt das einen Sinn hier. Ich bin Fahrer, Spedition Schindler, ich zeig sein Bild jedem, den ich treffe, und das sind ein Haufen Leute.« Er beugte sich vor und blickte zur Tür. »Nimm dir mal ein Beispiel an mir, Meister!«, rief er. »Eigeninitiative, das musst du heut haben, sonst wird das nichts. Oder, Herzchen?«
Er drückte Kirsten wieder an sich, und sie sträubte sich schon weniger.
»Mein Name ist Hans Garbo«, sagte er in die Kamera. »Garbo, wie die Schauspielerin, schon mal gehört?« Er grinste, und der Kameramann filmte sein klobiges Gesicht. »Wenn Sie wollen, können Sie mit uns mitessen, Nudeln gibt’s genug.«
»Nein, danke«, sagte Nicole Sorek.
»Wenn Sie irgendwas Falsches senden, zeig ich Sie an!«, drohte Thomas Vogel und zog den Reißverschluss seiner Windjacke hoch. Er warf seiner Frau noch einen Blick zu, bei dem Nicole froh war, dass er nicht ihr galt, und verließ die Wohnung, ohne die Tür zu schließen.
»Mach noch eine Totale von ihr, und dann hauen wir ab«, sagte Nicole leise zu ihrem Kameramann.
»Eine Totale ist nie verkehrt«, sagte Garbo und ging in die Küche, um den Vorrat an Dosen mit geschälten Tomaten zu kontrollieren.
Kirsten saß auf der Couch, die Hände im Schoß, und zitterte. Und hatte Gedanken, die schlimmer waren als der Hunger und die Kälte und die Blicke ihres Mannes.
Für ein Paar waren sie noch einige Jahre zu jung. Was sie nicht daran hinderte, seine Hand zu nehmen und mit ihm vergnügt durch den Tunnel unter dem Ostbahnhof zur Friedenstraße zu schlendern und ihn mit rot geschminkten Lippen anzulächeln. Verschämt schaute er seinen Turnschuhen beim Gehen zu. Die Schüchternheit ihres türkischen Klassenkameraden spornte die zehnjährige Sunny nur noch mehr an, und als sie die letzte Stufe der Treppe, die hinauf zum Bürgersteig führte, erreicht hatten, blieb sie stehen, zog seinen Arm zu sich her und drückte Aras einen Kuss auf die Wange. Genervt und sauer, weil sie ihn übertölpelt hatte, stieß er sie weg und wischte sich die Backe ab, als wäre Klebstoff dran.
»Du bist so bescheuert!«, sagte er und rannte über die Straße. In ihrem weißen Kleid, über das sie eine grüne Jacke gezogen hatte, mit ihren blonden Haaren, auf denen ihr spezielles, von einem Band zusammengehaltenes Büschel wackelte, und mit ihren blauen glänzenden Schuhen sah sie aus wie eine Prinzessin, der die Welt zu Füßen lag; und so war es auch, zumindest bei ihr zu Hause und in der Schule, und das genügte ihr fürs Erste.
»Nicht so schnell, Blödmann!«, rief sie ihm hinterher. Aras wartete ungeduldig in der Grafinger Straße, die an den Kunstpark Ost grenzte, wo sie verabredet waren.
»Ich hab nur zwei Stunden Zeit, sonst schimpft meine Mama!« Er ging einfach weiter, und sie musste sich beeilen.
Dann blieb sie stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Vielleicht ist das bei euch in der Türkei so, aber bei uns in Deutschland
Weitere Kostenlose Bücher