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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Trainingshose, sah von der Wohnzimmertür aus zu und rieb sich erfreut die Hände. Im Treppenhaus warteten Tabor Süden, Sonja Feyerabend und Volker Thon auf das Ende der Begrüßungszeremonie, die sich im engen Flur fortsetzte und schließlich, nach umständlichen Verrenkungen und unaufhörlichen Drehungen, in der Küche endete. Kirsten Vogel setzte ihren Sohn auf einen Stuhl und musste lachen. So plötzlich, dass alle den Kopf hereinstreckten und sich wunderten, so plötzlich, dass Kirsten vor Schreck sofort wieder damit aufhörte, und dann fing sie doch wieder an. Trotz aller innigen Knuddeleien hatte Raphael immer noch seine blaue Sonnenbrille auf, und Kirsten fand, er sah wie ein Skifahrer aus, oder wie einer dieser schwarzen Jungs aus Amerika, die nicht richtig singen konnten. Lachend nahm sie sein Gesicht in beide Hände und küsste es, auf die Wangen, auf den Mund, auf die Nase.
    Sonja drängte sich an den drei Männern vorbei, um besser sehen zu können, was jetzt geschah: Kirsten näherte sich mit dem rechten Auge Raphaels Nase und fing an, heftig zu zwinkern, und ihre Wimper berührte seine Nasenspitze. Raphael kicherte und gluckste, und Kirsten zwinkerte weiter und hörte nicht mehr damit auf, ihm Schmetterlingsküsse zu geben. Dann hatte er genug davon und schob seine Mutter weg, und sie erhob sich und stieß einen Seufzer aus.
    Ihr Gesicht war nass von Tränen, und es sah aus, als würde eine zarte Sonne hinter ihrer Haut scheinen, die sie heller machte, froher und leichter.
    »Müssen Sie Ihr Protokoll jetzt gleich machen?«, fragte sie vorsichtig.
    »Das kriegen wir schon hin, Schnurzel«, sagte Garbo von hinten; die Polizisten hatten ihn ins Abseits gedrängt, und nun zwängte er sich nach vorn in die Küche. »Jetzt trinken wir erst mal einen zügigen Schluck auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes, und dann kriegt er noch ein paar Nudeln von mir, hab ich selber zubereitet, Raphael, Spaghetti Garbo-nara, hähä, gibt’s nur bei mir, viel Sahne, viel Schinken, viel satt, hähä.« Er fegte mit der flachen Hand über Raphaels Kopf und holte fünf Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.
    »Hab keinen Hunger«, murmelte Raphael.
    »Danke, dass Sie mich gleich angerufen haben, Herr Süden«, sagte Kirsten.
    Auch wenn sie nur dastanden und nichts taten, so hatten die Polizisten jetzt das Gefühl, im Weg zu sein, zu stören, sich aufzudrängen. Aber sie hatten keine Wahl, Raphael musste zuerst seine Aussage machen, bevor sie wieder gehen konnten; und da er anscheinend unverletzt und gesund war, würde es das Vernünftigste sein, sofort mit dem Interview zu beginnen.
    Sie platzierten den Kassettenrecorder auf dem Küchentisch, rückten diesen von der Wand weg, damit sie noch einen Stuhl dazustellen konnten, und setzten sich – außer Hans Garbo, der im Türrahmen lehnte.
    Hauptkommissar Thon begann mit dem Gespräch. Raphael hatte frische Sachen angezogen, und Süden hatte ihm erlaubt, während der Vernehmung die blaue Sonnenbrille aufzubehalten.
    »Fertig, Raphael?«
    »Nein.« Er blickte verdrossen drein und hatte keine Lust zu reden.
    »Du bist also morgens um halb sechs aus dem Haus gegangen, ohne deiner Mutter Bescheid zu sagen …«
    Raphael schwieg.
    »Du bist also morgens …«
    Raphael senkte den Kopf und betrachtete mit gerunzelter Stirn seine Nike-Schuhe.
    Nachdem Thon noch drei weitere Versuche unternommen hatte, ihn zum Sprechen zu bringen, hielt sich der Junge die Ohren zu und nahm die Hände erst wieder weg, als alle Erwachsenen die Küche verlassen hatten – mit Ausnahme von Tabor Süden.
    »Er darf das Interview nicht alleine führen!«, schimpfte Thon im Wohnzimmer.
    »Ist es dir lieber, der Junge sagt überhaupt nichts?«, meinte Sonja.
    Kirsten stand neben Garbo am Fenster und kratzte sich an der Hand.
    Inzwischen hatte sich Süden in der Küche hingesetzt. Er sah Raphael an, der immer noch zu Boden schaute.
    »Ich höre dir einfach zu«, sagte er.
    Schweigen.
    Dann hob Raphael den Kopf. »Bestimmt horcht meine Mama an der Tür.«
    »Das tut sie nicht. Willst du nachsehen?«
    Raphael zuckte mit den Achseln.
    »Ich bin mit der S-Bahn gefahren …« Er stockte. »… zum Rosenheimer Platz, und von da bin ich zum Friedhof gegangen …«
    Er schwieg, und Süden nickte.
    »Und dann hast du dich versteckt«, sagte Süden.
    »Ja. In einem Auto.« Raphael grinste.
    »In was für einem Auto?«
    »In einem alten kaputten Schrottauto, das ist da gestanden, und da hab ich mich

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