Die Erfindung des Abschieds /
jawohl.«
»Keiner von beiden hat dich belästigt, sie wollten nicht, dass du dich ausziehst oder dass du sie anfasst.«
»Nö! Die haben mich nicht verpetzt, sondern die haben mir geholfen und waren ganz nett zu mir, die ganze Zeit. Ich möcht jetzt sofort den Gustl anrufen, jetzt sofort!«
»Du kannst ihn später anrufen, Raphael. Ich versprech’s dir.«
»Du bist ein Polizist, dir glaub ich nicht.«
»Warum bist du weggelaufen, Raphael?«
»Weil der Opa tot ist. Und weil er nicht wiederkommt. Und weil ich allein bin. Und weil ich auch tot sein will, dann wär ich wieder bei meinem Opa.«
»Deinem Opa geht es bestimmt gut dort, wo er jetzt ist.«
»Das sagst du bloß, weil du mich austricksen willst.«
»Nein. Ich weiß, dass es so ist«, sagte Süden.
»Woher?«
»Ich erklär’s dir ein andermal.«
»Wann?«
»In ein paar Jahren.«
»In wie vielen?«
»Drei.«
»Erklär’s mir jetzt gleich, los! Los, erklär’s mir!«
»Jetzt gleich kann ich nicht«, sagte Süden, »ich muss noch arbeiten. Aber wenn du möchtest, komme ich in ein paar Tagen zu dir, und dann sag ich dir, wieso es deinem Opa bestimmt gut geht.«
»Tricks mich ja nicht aus!«
»Nein.«
»Schwörst du’s?«
»Vertraust du mir nicht?«
»Weiß nicht.«
So redeten sie noch eine Weile, bis Raphael aufsprang, in sein Zimmer rannte und sich aufs Bett fallen ließ. Er wollte Gustl noch etwas Wichtiges mitteilen, aber da war er schon eingeschlafen.
»Kommen Sie allein zurecht?«, fragte Sonja an der Tür, als sie sich verabschiedeten.
Kirsten nickte. »Danke«, sagte sie, »jetzt ist alles wieder gut.«
Sie machte die Tür zu, und die Polizisten gingen zum Auto.
»Wir dürfen die beiden nicht allein lassen«, sagte Sonja.
»Das müssen wir«, sagte Thon, »unsere Arbeit ist getan, wir haben den Ausreißer zurückgebracht.«
Zwei Stunden später wachte Raphael auf und konnte nicht mehr einschlafen. Er lag in der Dunkelheit und dachte an Gustl und hatte Angst davor, ihn nie wieder zu sehen.
Als er ein Geräusch hörte, dachte er zuerst, seine Mutter komme zu ihm.
Aber es war sein Vater. Er stand plötzlich in der Tür, mit einem merkwürdigen Koffer in der Hand. Er trat leise ein und sperrte ab. Raphael drückte sich an die Wand und wollte etwas sagen, aber er bekam keine Luft.
In dem schwarzen, schmalen, abgeschabten Koffer, in dem er früher ein Queue aufbewahrt hatte, brachte Thomas Vogel einen Bambusrohrstock mit, den seine Freundin Eva manchmal auf der Bühne benutzte, wenn sie sich auszog.
Als Vogel nach unendlichen Minuten mit dem Schlagen aufhörte, war das Bett voller Blut.
Eigenartigerweise spürte Raphael keinen Schmerz. Er schaute seinem Vater zu, wie er den Stock wieder einpackte, den Koffer zuklappte, die Tür aufmachte und sich noch einmal umdrehte.
»Nie wieder, verstanden? Nie wieder!«, sagte Thomas Vogel und ging hinaus.
Dann taumelte Kirsten herein, und in diesem Moment fing Raphael an zu schreien. Und er schrie so laut und lang wie noch nie, und Kirsten hatte kein Wort, um ihn zu trösten.
Und später lagen sie nebeneinander und froren.
Sleepless nights don’t bother me at all,/If dawn comes I wont’ worry,/Something deep inside keeps me awake,/I wish that you were here right beside me./I recall when I was very young …
12
Heimat des Bieres, des Weines und des Blutes
… And could not go to sleep,/My father sang me songs to make me tired,/But memories don’t make it easier …
Jedes Mal, wenn sie stehen blieb und nach oben schaute, flatterten die Krähen davon, als habe sie die Absicht, sie zu fangen.
»Die sind menschenscheu«, sagte Sonja Feyerabend, »so wie du.«
»Ich bin zurückgekommen«, sagte Tabor Süden, »du kannst mich anfassen.«
»Tu ich doch!« Sie drückte seine Hand, und schweigend betrachteten sie die Gräber mit den alten Namen, die das gewaltige Areal zwischen Tannen, Fichten, Birken und Sträuchern ausfüllten; zweihundertfünfzigtausend Tote lagen hier, viele Gräber wurden auf dem Waldfriedhof mehrmals belegt.
Einer der Toten war Martin Heuer. Sein Grabstein war klein und grau wie dieser Tag, an dem Tabor und Sonja wieder einmal ihren Freund besuchten; Heuer hatte seine letzte Ruhestätte neben Krescenzia Wohlgemuth gefunden, ein angemessener Platz, wie sie fanden. Krescenzia war eine Kolonialwarenhändlerswitwe gewesen, sie kannte sich also aus mit Wegzehrungen.
»Hallo«, sagte Tabor und stellte sich vor das Grab, auf das ein kleiner Rosenstrauch gepflanzt
Weitere Kostenlose Bücher