Die Erfindung des Abschieds /
worden war, der vielleicht im nächsten Jahr blühen würde; außerdem steckte in der schwarzbraunen Erde eine grüne Plastikvase mit weißen Lilien. Sonja hatte den Gärtner beauftragt, weiße Margeriten und purpurfarbene Kartäusernelken einzupflanzen, aber er hatte ihr erklärt, dass diese Blumen auf einem Grab nicht wachsen würden; was er nicht wusste, war, dass es Dinge gab, über die man mit Sonja nicht diskutieren konnte. Der Gärtner meinte schließlich, wenn sie ihr mageres Polizistengehalt unbedingt zum Fenster rauswerfen wolle, bittschön, und machte sich an die Arbeit.
»Grüß dich, Martin«, sagte Sonja. »Entschuldige, aber könntest du dem Zuständigen nicht mal erklären, dass dieses Wetter eine Beleidigung ist und wir hier in München auch etwas Sonne verdient haben?«
Sie schwiegen. Die Krähen krächzten, in der Ferne waren Schritte auf Kies zu hören und weit weg das Brummen des Straßenverkehrs auf der Garmischer Autobahn.
»Die Presse hat sich wieder beruhigt«, sagte Süden zum Grab. »Sie haben versucht, einen Helden aus mir zu machen, nachdem ich vorher ein gefährlicher Verrückter war …«
»Und ein unfähiger Bulle«, sagte Sonja und versteckte ihre Hände in den Manteltaschen, weil ihr kalt war; nicht nur wegen dem Wetter.
»Und dann haben sie mir vor dem Haus aufgelauert, um mich zu fotografieren und mir Fragen ins Gesicht zu brüllen. Ich hab nichts gesagt, sie haben ihre Fotos geknipst, und nach drei Tagen hatten sie keine Lust mehr. Charly hat alles abgekriegt, seine Freunde bei der Presse haben ihn unter Druck gesetzt, er hat mir fast Leid getan. Fast.«
»Im Dezernat gibt’s einige Kollegen, die sich darüber freuen, dass Charly eins auf die Mütze gekriegt hat«, sagte Sonja. Heute wollte sie nicht so lange bleiben wie sonst. Hier wurde es noch schneller finster als auf den anderen Friedhöfen, die sie kannte. Als würde von den Krähen ein schwarzes Licht ausgehen, das über die Gräber fiel.
»Die Stimmung ist besser geworden«, sagte Süden. »Die meisten Kollegen haben sich damit abgefunden, dass ich wieder da bin. Bei der Abschlussversammlung im Fall Raphael hab ich ihnen nochmal gesagt, wie dämlich sie sich bei der Observierung von Anz’ Wohnung angestellt haben. Sitzen im Auto und starren den Hauseingang an, anstatt sich mit den Besonderheiten der Wohnanlage vertraut zu machen! Die haben glatt übersehen, dass die Garagenausfahrt auf der anderen Seite ist, und dachten, die gehört zum Rückgebäude. Zum Glück hat die Presse das nicht mitgekriegt.«
»Es reicht, was sie sonst alles mitgekriegt hat«, sagte Sonja. »Du hast den Anfang ja noch erlebt …« Sie stockte. Sie stockte noch immer, wenn sie vor seinem Grab stand und plötzlich an seinen Selbstmord denken musste, an den Anblick seines Leichnams im Müllcontainer, an seine Augen, die offen waren, an das Blut und den Dreck.
Süden hakte sich bei ihr ein. »Die Mutter war mit Raphael bei einer Bekannten am Ammersee, sie hat uns nicht gesagt, wo genau. Die Reporter lungerten ständig vor ihrer Wohnung rum. Mich hat sie auch nicht reingelassen, und ich kann sie nicht dazu zwingen. Ich hab nicht mehr mit dem Jungen gesprochen, aber ich werde es tun, ich hab’s ihm versprochen, ich muss ihm erklären, warum sein Opa jetzt nicht leidet, sondern zufrieden ist. Woher soll ich das wissen, mein Freund? Sag’s mir!«
»Lass uns gehen«, sagte Sonja, »ich möcht hier weg. Und ich hab Hunger.«
»Hast du das gehört?«, sagte Süden zum Grab. »Sie ist unersättlich. Ich werd mir was einfallen lassen für Raphael. Ich hab bei seiner Mutter angerufen und sie gefragt, ob sich ihr Mann über die Rückkehr seines Sohnes gefreut hat. Sie hat ja gesagt, natürlich hat sie ja gesagt. Wir können nichts tun, wir haben kein Recht, uns in ihre Erziehung einzumischen, in ihre Familienangelegenheiten. Und Anz und Oberfellner können wir auch nichts anhaben, Raphael war freiwillig bei ihnen. Unser Arzt hat ihn untersucht, ihm fehlte nichts, Gott sei Dank. Die beiden kommen straffrei davon, sie haben den Jungen nicht entführt, und der Paragraph über Entführung mit Willen des Entführten betrifft nur Frauen unter achtzehn, keine Jungs. Freiheitsberaubung war es auch nicht, weil Raphael nicht eingesperrt war, er hätte jederzeit gehen können; sie haben den Kleinen weder bedroht noch zu irgendwas genötigt, sie haben sich einfach nur um ihn gekümmert. Allerdings haben sie ihren Job verloren, die Stadt hat sie entlassen,
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