Die Erfindung des Abschieds /
blinzelte, weil es ihn irritierte, dass sich Gustls Augen überhaupt nicht bewegten. »Das war in der Eile, außerdem hätt da ja auch der Junge dran denken können …«
»Was? Was hätt der?« Gustl schrie so laut, dass Oberfellner zurückwich und über einen der herumliegenden Schuhe stolperte, die Gustl zu Beginn ihrer Auseinandersetzung vom Flur ins Wohnzimmer gekickt hatte; Oberfellner streckte die Hand nach dem Tisch aus, um sich festzuhalten, erwischte gerade noch die Tischkante und stürzte zu Boden. Der Tisch fiel um und landete auf seinem Kopf. Das brachte Gustl zum Grinsen, und als Oberfellner ihn grinsen sah, nickte er erleichtert und vergaß für kurze Zeit das immer heftiger werdende Brummen im Kopf und den ziehenden Schmerz im Mund.
»Der Junge hat sich spitzenmäßig verhalten«, sagte Gustl, zog seine Cordhose am Gürtel hoch und klemmte beide Daumen in den Bund. »Das ist ein ganz ausgeschlafener Junge, der Raphael, aus dem wird mal was, nicht so ein Penner wie du, darauf kannst du wetten, der wird mal kein Feigling! Und du hast ihn weggeschickt!«
Er schaute auf seine Uhr, es war vier Uhr zwanzig morgens.
»Willst du schon gehen?«, fragte Oberfellner und hatte plötzlich panische Angst davor, dass der einzige Mensch, an den er sich jemals gewöhnt hatte, für immer wegging.
»Hast du hier was zu melden, Verräter?«
»Warte! Warte doch, Gustl!« Oberfellner rappelte sich hoch, presste vor Schmerz die Hände an die Schläfen und humpelte in den Flur, wo sich Gustl die Jacke überzog. »Du kannst doch hier bleiben, es ist doch viel zu spät jetzt, was … was machen wir denn jetzt?«
Gustl knöpfte die Jacke zu und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich geh nach Hause, dann schlaf ich mich aus und dann seh ich weiter. Was du machst, ist mir wurscht.«
»Das geht doch nicht …« Oberfellner packte seinen Freund am Arm und hielt ihn krampfhaft fest. »Ich – ich kann nichts dafür, dass die uns rausgeschmissen haben, das sind Arschlöcher, die Zeitungen sind schuld, die haben geschrieben, dass wir den Jungen gekidnappt haben, so ein Wahnsinn!«
»Du bist schuld«, sagte Gustl. »Lass los, du Armleuchter!«
»Ich bin nicht schuld. Und … und das wär sowieso nicht gut gegangen mit dem Jungen, der gehört zu seinen Eltern, auch wenn die ihn manchmal schlagen, wir sind nicht seine Eltern, wir können so ein Kind doch nicht einfach behalten, das ist verboten …«
»Was verstehst du davon? Du sollst mich loslassen!«
Oberfellner ließ ihn los und schaute ihn flehend an.
Da klingelte es an der Tür. Ein kurzes, flüchtiges Klingeln.
Auch Gustl erschrak.
Sie warteten. Es war still.
»Sieh nach, du Feigling!«, sagte Gustl.
Oberfellner traute sich nicht.
Es klingelte wieder, noch kürzer.
»Dann schau ich nach«, sagte Gustl und riss die Tür auf.
Sonntagmorgen gegen zehn Uhr war Volker Thon ein zufriedener Mann. Falls Sebastian nicht gerade mit seinem blau blinkenden Schwert den Dschungel des Wohnzimmers durchpflügte und Claudine eine kurze Pause einlegte zwischen ihren unerschöpflichen Monologen. Bevor sich der Hauptkommissar am Sonntagmorgen mit seiner Frau Vera und den beiden Kindern an den bunt gedeckten Frühstückstisch setzte, dachte er jedes Mal daran, wie sehr er sich schon als Zwanzigjähriger eine Familie gewünscht hatte, eine Frau, die Freude an Kindern hatte, und Kinder, die den Irrsinn, den sein Polizistenalltag mit sich brachte, in Unsinn verwandelten, einfach, indem sie ihn mit Fragen und Spielen konfrontierten, in denen die Welt nur als chaotischer Glücksfall vorkam. Woher seine neunjährige Tochter ihre Geschichten hatte, war ihm nach wie vor ein Rätsel, und er machte sich ernsthaft Sorgen, wenn ihr Redefluss plötzlich nachließ. Dass sein fünfjähriger Sohn, wenn er groß war, Excalibur werden wollte, fand er in Ordnung, auch wenn er ihm schon hundertmal erklärt hatte, dass Excalibur der Name des Schwertes und nicht der seines Besitzers war. Dafür konnte Sebastian als einziger Fünfjähriger in der Umgebung den Namen Excalibur fehlerfrei aussprechen.
Anders als die meisten seiner Kollegen im Dezernat hatte Thon ein intaktes Familienleben, und darauf war er stolz. Es gab Kollegen, vor allem Kolleginnen, die behaupteten, er komme privat nur deshalb so gut zurecht, weil seine Frau ihren Beruf als Möbeldesignerin aufgegeben hatte und sich nur noch um die Kinder kümmerte. Vielleicht hatten sie Recht; aber es war Veras Entscheidung gewesen; er
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