Die Erfindung des Abschieds /
hatte sie nicht dazu gezwungen. Wie es gewesen wäre, wenn sie hätte weiterarbeiten wollen, wusste er nicht, und es spielte keine Rolle mehr. Sie waren eine Familie geworden, und es sah nicht danach aus, als hätten sie den Zenit ihrer Beziehung schon erreicht.
»Du bist spät ins Bett gekommen«, sagte er. Die Kinder waren schon aufgesprungen und nach draußen gelaufen; die Eierbecher trieften vor gelbem Glibber, angebissene Toaststücke lagen auf den Tellern, und den vitaminreichen Obstsalat hatten Claudine und Sebastian in seltener Einmütigkeit souverän ignoriert.
»Um eins haben sie eine Folge von
NYPD Blue
wiederholt«, sagte Vera, »du weißt, ich häng an dieser Serie wie an der Nadel.« Genüsslich löffelte sie ihre Schale mit den saftigen Apfel-, Birnen- und Kiwistücken aus.
»Ehrlich gesagt, ich finde es ekelhaft, ein Land für großartig zu halten, in dem es die Todesstrafe gibt.«
»Hm?« Sie stellte die Glasschale hin und schaute ihren Mann verwundert an.
»Kein Mensch kommt auf die Idee, zum Beispiel den Iran toll zu finden«, sagte er. »Da gibt’s auch die Todesstrafe, und wenn sie verhängt wird, schreien alle laut auf.«
»Was hat die Todesstrafe mit
NYPD Blue
zu tun?«, fragte Vera.
»Nichts«, sagte Thon. »Aber wir alle reden von Menschenrechten, und in Amerika setzen sie ihre Verurteilten immer noch auf den elektrischen Stuhl. Ich finde das zum Kotzen.«
»Ist das polizeipolitisch korrekt, was du da sagst?«
Ihr Lächeln begeisterte ihn auch nach zehn Ehejahren wie am ersten Tag.
»Ich bin nicht so unpolitisch, wie du immer denkst«, sagte er.
»Das weiß ich doch, du bist ein aufrechter SPD -Wähler.«
»Schon gut.«
»Mach dir nichts draus, wir wählen doch alle SPD , weil nichts Besseres da ist.« Sie hatte noch Hunger, aber nach dem Obstsalat wollte sie keinen Käse mehr essen, oder doch? Doch! Sie schnitt eine Scheibe ab und steckte sie sich in den Mund.
Aus dem Keller kam das Geschrei der Kinder, die dort unten ihre Zimmer hatten. Sie wohnten in einem schmucklosen, aber praktischen Einfamilienhaus im Stadtteil Laim, mit Garten und netten Nachbarn, die die Anwesenheit eines Polizisten beruhigend fanden.
Vom Wohnzimmer führte eine Tür auf die Terrasse. Thon stand auf und schaute hinaus. An einer mächtigen Buche hing eine Schaukel, an dem verwitterten Holztisch hatten sie in diesem Sommer nur ein- oder zweimal gesessen und gefeiert, ansonsten hatte es nur geregnet.
»Hast du noch was von dem Jungen gehört, von diesem Raphael?«, fragte Vera, und er drehte sich zu ihr um.
»Nein. Die Sache ist ausgestanden.«
»Aber hast du nicht gesagt, dass sein Vater ihn schlägt und dass das auch ein Grund war, weswegen er weggelaufen ist?«
»Ja. Aber jetzt ist er wieder da. Wir sind nicht mehr zuständig.«
»Ja«, sagte sie, stand auf und stellte die Teller übereinander. »Euer Job ist es, den Täter zu finden, für die Opfer seid ihr nicht zuständig.«
»Warte, ich helf dir«, sagte er, und gemeinsam trugen sie das Geschirr in die Küche.
Beim Abräumen sprachen sie kein Wort, und als sie fertig waren, stand auf einmal Sebastian mit seinem Schwert, das an der Spitze blau blinkte, in der Tür und kreischte: »Jetzt gibt’s Krieg!« Dann schlug er das Schwert auf die Spüle und stürmte siegessicher aus der Küche.
»Und dein Kollege? Tabor Süden. Verstehst du dich wieder mit ihm?«, fragte Vera.
»Jeder macht seine Arbeit. Ich glaub nicht, dass er nochmal so glimpflich davonkommt wie beim letzten Mal. Ich hab nachgegeben, weil ich Ruhe in der Abteilung haben wollte. Noch einmal lass ich mir dieses Verhalten nicht gefallen.«
»Es ist nichts Schlechtes, nachzugeben«, sagte sie und schob ihn aus der Küche. »Zoo oder IMAX ?«
Ihm war nach frischer Luft, nach entspanntem Gehen, fröhlichem Popcornessen und wilden Tieren hinter Gittern, und so schlug er einen Ausflug in den Tierpark Hellabrunn vor.
Eine Stunde später saßen sie im IMAX -Kino und sahen sich einen Film über Wirbelstürme an.
Bei den Fürbitten hörte er nie zu. Das war schon als Kind so gewesen, er konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren, obwohl er sich große Mühe gab, immerhin war er damals Ministrant und überzeugt davon, Gott höre alles, was in seinem Kopf vor sich ging. Es half nichts, er tauchte ab in seine eigenen Welten und dachte an seine Freunde in der Schule, an die Mädchen und ihre nackten dürren Beine, an sich selbst und seine Wünsche, die nie erfüllt wurden, weil
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