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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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seine Eltern weder Geld noch Zeit hatten.
    Und schon hatte der Pfarrer die Fürbitten beendet, und Karl Funkel konnte sich an keine einzige erinnern. Die Josefskirche in Schwabing war an diesem Sonntagvormittag gut besucht, und die Gläubigen sangen routiniert ihre Lieder. Funkel sang nicht. Er saß in einer der hinteren Reihen, ganz am Rand, die Hände gefaltet, und suchte im Stillen nach Worten, die er an seinen Schöpfer richten konnte, an den er glaubte. Es fielen ihm keine ein.
    Bereits in der Früh beim Aufstehen hatte er eine Leere empfunden wie schon lange nicht mehr; er war nicht niedergeschlagen oder traurig, nur leer, wie ausgehöhlt, ohne Empfindungen. Er hatte sich Kaffee zubereitet und war dann in die Kirche gegangen, lustlos, gereizt.
    In der Tiefe seines Herzens hallten die Gebete und Gesänge heute nicht wider, er war verschlossen für den Segen, der ihm an anderen Sonntagen die Gewissheit gab, dass der Himmel bewohnt und er auf dem richtigen Weg war. Nichts tröstete ihn heute, nichts ermutigte ihn, an etwas anderes zu denken als an die Dunkelheit seines linken Auges. Daran dachte er die ganze Zeit, und sein Selbstmitleid übermannte ihn beinah.
    Nicht der Mann, der ihm mit dem Messer die schwere, unheilbare Verletzung zugefügt hatte, beschäftigte Funkel, sondern die Tatsache, dass er nur noch ein Auge für das Licht der Welt zur Verfügung hatte; darüber hatte er schon tausendmal nachgedacht, doch heute quälte ihn diese Vorstellung mehr als sonst. Er rieb über die schwarze Augenklappe und glaubte, das Messer wieder zu spüren, wie es seinen Augapfel aufritzt, und ihm war, als würde er wieder die Arme reflexartig nach hinten werfen, anstatt den Angreifer zu packen und abzuwehren. Jetzt kam es ihm so vor, als habe er den Mann gar nicht daran hindern
wollen,
ihm das Augenlicht zu zerstören, als habe er sein Unglück zugelassen.
    Er blickte nach vorn, wo der Priester mit der Eucharistie begann. Das Brot wurde in den Leib Christi verwandelt und der Wein in das Blut Christi, ein Wunder, das jeder hinnahm wie den Tod.
    Die Ärzte hatten ihm gesagt, er habe Glück gehabt, er hätte auch tot sein können. So war sein Glück ein blinder Blick, und es gab Tage, da hasste er sein Spiegelbild, hasste seinen Beruf und den Mann, der ihm das angetan hatte, einen drogensüchtigen Dealer. War es Gott gewesen, der diesem Junkie befohlen hatte zuzustechen? Warst Du es? Wer sonst? Ich nehme Dein Zeichen an, auch wenn ich noch immer nicht seine Bedeutung verstehe. Hilf mir, es zu verstehen, hilf mir, auch mit einem Auge zu sehen, hilf mir, denn es ist dunkel in mir!
    Er kniete sich hin und hörte die Glocken läuten. Die Orgel fing wieder an zu spielen, und die Besucher traten aus den Bänken und gingen nach vorn zum Altar, um die Hostie in Empfang zu nehmen. Er ging nicht nach vorn, er hatte seit zwei Jahren nicht gebeichtet. Und er war sich nicht sicher, ob er es je wieder tun würde.
    Das Orgelstück endete, und in den Sekunden vor dem nächsten klingelte ein Telefon. Ein entrüstetes Brummen erfüllte die Kirche, und die alte Frau neben Funkel strafte ihn mit einem apokalyptischen Blick. Es war
sein
Handy!
    Er stürzte aus der Bank, griff in die Manteltasche, zuerst in die falsche, und schaltete das Gerät ab. Wieso hatte er das vergessen? Wie ein Sünder floh er aus der Kirche und blieb keuchend auf dem Vorplatz stehen.
    Tauben flatterten hoch. Er ging einige Schritte hin und her, um sich zu beruhigen. Er hatte Herzklopfen und sah sich mehrmals nach dem Portal um, als könne jeden Moment die Menge herausgestürmt kommen, um ihn zu steinigen.
    Schließlich schaltete er sein Handy wieder ein und hörte die Mailbox ab. Die Nachricht, die ihm ein Kollege vom Bereitschaftsdienst hinterlassen hatte, erschien ihm unfassbar: Raphael Vogel war erneut von zu Hause ausgerissen! Und er hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, handgeschrieben, und es war, wie seine Mutter unter Tränen der Polizei mitgeteilt hatte, ohne jeden Zweifel die Handschrift ihres Sohnes.
    Ich komm nie wieder. Ich geh zu Opa, und ihr seid schuld.
     
    Gestützt von Karl Funkel, wankte sie durch die Wohnung und weigerte sich widerspenstig, sich hinzusetzen. In einer geheimen Schublade hatte Kirsten Vogel noch ein paar Tabletten gefunden und sie sofort geschluckt. Jetzt war die Welt ein ferner Stern, sie schlafwandelte an seinen Rändern, und jemand zeigte ihr den Weg.
    »Setzen Sie sich bitte«, sagte Funkel wieder.
    »Raphael ist im Keller und

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