Die Erfindung des Abschieds /
Schatz«, sagte sie, und er nickte und klopfte ihr zweimal auf die Schulter, patschte ihr aufs Sweatshirt, das ihr bis zu den Knien reichte und vorne mit einem Bild von Snoopy bedruckt war. Sie empfand diese Geste wie eine Berührung, und das gab ihr die Stimme zurück. »Wo … wo kommst du denn auf einmal her?«, sagte Kirsten Vogel und blinzelte und kratzte sich in der Innenseite der linken Hand.
»Ich wohn hier, verflucht!«, sagte Vogel, schnellte in die Höhe, sah sich um, bemerkte das ungewaschene Geschirr, das sich neben der Spüle stapelte, schüttelte den Kopf und öffnete die Kühlschranktür. Kirsten blieb auf dem Boden sitzen und langte nach der Kleenexpackung auf dem Fensterbrett; sie riss ein Tuch heraus, rieb sich damit über die Augen und schnäuzte sich; erschrocken starrte sie den Papierfetzen an: Sie hatte vergessen, dass sie stark blutete. Sie hielt den Kopf nach hinten, verharrte einige Sekunden und schaute dann zu ihrem Mann hoch, der sich eine Cola aus dem Kühlschrank genommen hatte, den Verschluss abriss und die Dose an die Lippen setzte; etwas tropfte auf sein Hemd, und er streckte den Kopf vor, so dass das braune klebrige Zeug, das ihm aus dem Mund lief, auf dem Boden landete und in dünnen Rinnsalen unter den Gasherd floss.
»Warum bist du denn nicht bei deiner Freundin geblieben, vielleicht …« Sie konnte nicht weitersprechen, weil ihr das Blut aus der Nase auf die Hände tropfte und sie sich nicht beschmieren wollte. Den Kopf vorsichtig nach hinten gedrückt, erhob sie sich, indem sie sich am Fensterbrett und an der Stuhllehne festhielt, schwankte, als sie endlich stand und den kalten Boden unter ihren nackten Füßen spürte, und tastete sich durch die enge Küche hinaus in den noch engeren Flur bis ans Ende, wo rechts das Bad lag, gegenüber von Raphaels Zimmer, in dem der bunte Lichterkranz brannte, den Kirsten über das gerahmte Poster von Arnold Schwarzenegger als Kindergartencop gehängt hatte.
»Wo steckst du denn?«, rief Vogel und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
Auf einmal fiel ihm etwas ein, und er griff hastig in sämtliche Taschen seines Jacketts. Fand nicht, was er suchte, warf die Coladose in die Spüle, wo sie scheppernd ein Ensemble dreckiger Löffel, Messer und Gabeln sprengte, und stürzte zur Wohnungstür, die angelehnt war. Der Schlüssel steckte außen im Schloss. Als Vogel ihn abzog, schoss aus dem ersten Stock ein grauer Pudel herunter und blieb, wie besessen kläffend, vor ihm stehen.
»Servus, Susi«, sagte Vogel, und Susis Bellen nahm hysterische Ausmaße an.
»Grüß Gott, Herr Vogel, das ist aber schön, dass Sie wieder da sind, wo waren Sie denn, auf Fortbildung?« Eine gedrungene ältere Frau in einem beigen Popelinemantel schlurfte über die Stufen. Sie hatte braune klobige Gesundheitsschuhe an und ein Einkaufsnetz in der Hand. Sie wog mindestens neunzig Kilo, und ihre Stirn glänzte von Schweiß.
»Grüß Gott, Frau Tausig«, sagte Vogel und steckte den Schlüsselbund ein, an dem ein Minifußball aus Hartgummi baumelte.
»Ich hab Sie schon vermisst, Herr Vogel, wissen S’ …« Sie blieb neben ihrem Pudel stehen, dessen schrilles Gebell im Treppenhaus widerhallte. »Es ist ja manchmal so laut, wenn Sie nicht da sind, Herr Vogel. So was sagt man ja nicht, aber es ist manchmal direkt unangenehm, vielleicht können Sie mal mit Ihrer Frau reden. Wir haben ja auch ein hellhöriges Haus hier, das wissen Sie ja, Herr Vogel …«
»Und was hören Sie dann immer so?«, fragte er.
»Nix Bestimmtes, Herr Vogel, Stimmen halt, es ist halt laut, Ihre Frau ist jung, das versteh ich ja, da macht man auch mal Musik, ich hab ja auch nichts gegen Musik. Wohnen Sie jetzt wieder hier, Herr Vogel?«
»Nein.«
»Ach. Und Ihr Sohn, der Raphael, das ist ja ein ganz Braver, so ein Braver, geht’s ihm gut?«
»Ja.«
»Ich hab ihn heut früh weggehen sehen und hab mich noch gewundert …«
»Sie ham den Raff gesehen, wann war ’n das?«
»Wieso? Ist was passiert? Ich hab doch nicht gewusst, dass …«
»Wann ham Sie den Raff gesehen, wann genau?« Er schaute sie mit seinen kleinen harten Augen an, und unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Der Pudel gab einen quietschenden Laut von sich und verstummte abrupt.
»So um sechs, glaub ich, viertel vor sechs, ich hab mich noch gewundert, weil …«
»Wieso ham Sie sich gewundert, ha?«
»Beruhigen Sie sich doch, Herr Vogel …«
»Wieso soll ich mich beruhigen, ha? Wann ham Sie den
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