Die Erfindung des Abschieds /
dem Mund. Dann ging sie an Heuers ausgestrecktem Arm vorbei zur Tür. Drehte sich zu ihm um und nahm die Zigarette aus dem Mund.
»Aber ich versteh dich nicht, Martin, warum wehrst du dich nicht gegen ihn?«, sagte sie.
»Er hat keine Schuld«, sagte er, faltete die Hände und presste sie zwischen die Knie.
»Du bist ein erwachsener Mann, Martin, du bist fast vierzig, du bist selber für dein Leben verantwortlich!« Im ersten Moment bereute sie diese Sätze. Aber dann begriff sie, dass sie Martin Heuer damit nicht verletzen konnte, die Worte erreichten ihn nicht. Er hockte auf der Matratze, den Kopf gesenkt, die Beine angewinkelt, die Hände zwischen den Knien – ein grauer Schatten in der Finsternis.
»Wenn du möchtest, bleib da, ausnahmsweise«, sagte Lilo leise und öffnete die Tür.
»Ich muss gehen.« Wieder schien seine Stimme von der anderen Seite der Wand zu kommen.
»Bleib, Martin, bleib da!«
»Ich muss los.«
»Es ist spät.«
»So wie immer.«
»Ich hab Angst um dich, weißt du das?«
Ein schrilles Klingeln zerriss ihr Gespräch. Jemand war an der Wohnungstür.
»Zieh dich an!«, sagte Lilo und huschte auf Zehenspitzen über den Flur zu den Zimmern ihrer Mitbewohnerinnen. Als Erste tauchte, nackt und verschlafen, die sechsundzwanzigjährige Nelly auf, dann erschienen die einunddreißigjährige Rosi und die sechsunddreißigjährige Patricia, die gemeinsam in einem Zimmer schliefen; sie behaupteten, Cousinen zu sein, als würde das erklären, warum sie sich ein Bett teilten; Nelly, der Hauptmieterin, war das egal.
»Aufmachen, Polizei!« Es klingelte wieder, und jemand klopfte an die Tür.
»Scheiße«, sagte Nelly.
»Was wollen die denn um die Zeit?«, fragte Patricia, die Spezialistin für sinnlose Fragen war.
»Wo bleibst du denn?«, flüsterte Lilo und ging zu ihrem Zimmer, das am nächsten zur Wohnungstür lag. Heuer zog seine Bomberjacke an, wischte sich übers Gesicht und blieb im Türrahmen direkt vor Lilo stehen.
»Und jetzt?«, fragte er leise, und Nelly nickte ihm zur Begrüßung aus der Entfernung zu.
»Kletter von Rosis Zimmer aufs Dach, da gibt’s eine Leiter nach unten. Glaub ich wenigstens«, sagte Lilo.
»Ich bin heut schon mal geklettert«, sagte Heuer und machte sich auf den Weg, während das Klopfen an der Tür heftiger wurde.
»Bitte machen Sie auf, sonst müssen wir Gewalt anwenden!«, rief ein Polizist.
»Wo bist du heute schon mal geklettert?«, fragte Lilo und öffnete die Tür zu Rosis Arbeitsraum, der sich neben Patricias Schlafzimmer befand. Es roch nach Leder und Ölen, vor der linken Wand stand ein Andreaskreuz aus Holz, behängt mit Ketten und Lederriemen.
»Klemmt manchmal!« Lilo hantierte an dem schwarzen Brett herum, das Rosi vor dem Fenster, zwischen Decke und Fensterbrett, befestigt hatte, damit kein Licht hereinfiel.
Lilo stellte das Brett auf den Boden, öffnete das Fenster und legte ihre Hand in Heuers Nacken. »Beeil dich, und fahr nach Hause! Fahr nach Hause, Schätzchen! Was ist das?« Sie hatte etwas an seinem Hinterkopf ertastet.
»Eine Beule«, sagte er, nahm ihre Hand weg und stieg auf einen Stuhl, dessen Beine an der Zentralheizung festgekettet waren. »Ich hab dir ja gesagt, ich bin heut schon mal geklettert und dabei bin ich ausgerutscht.«
Er war dünn genug, um sich aus dem Fenster zu winden. Das schräge Blechdach war nass, und er sah die Leiter, die auf ein Dach darunter führte; er war im dritten Stock.
»Sag mir die Wahrheit, Martin«, sagte Lilo und hob das schwarze Spanholzbrett hoch. »Ist wieder auf dich geschossen worden? Das kannst du mir doch sagen! Hat jemand auf dich geschossen? Warst du deswegen heut so still und so abweisend, wolltest du mit mir nicht darüber sprechen? Martin!«
Er beugte sich hinunter und hielt sich an der Dachrinne fest. »Nein«, sagte er, »niemand hat auf mich geschossen. Und jetzt beeil dich, sonst schlagen sie dir die Tür ein! Um diese Zeit sind die Kollegen nicht besonders geduldig.«
»Ich auch nicht, verdammt noch mal!« Sie knallte das Fenster zu und schob das Brett davor. Langsam hatte sie es satt, sich von diesem Mann wie eine Gummipuppe behandeln zu lassen. Soll er doch verrecken in seiner Arbeit, Scheißbulle! Steht er mir vielleicht zur Seite, wenn ich ihn brauche? Jetzt zum Beispiel. Da verpisst er sich durchs Fenster! Am liebsten würd ich meine Pistole aus dem Schrank holen und dem Erstbesten, der zur Tür reinkommt, in die Fresse ballern. Hau bloß ab, Martin Heuer, und
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