Die Erfindung des Abschieds /
Schweizer Kollege unter der Hand besorgt hatte, dazu sieben Patronen; doch nur eine würde er brauchen, und dann hörten diese Nächte ein für alle Mal auf.
Wenn ihn sein Chef so wie heute nach Hause schickte, obwohl er ebenso gut hätte weiterarbeiten und die restlichen Telefoninterviews führen können, dann empfing ihn seine Wohnung wie ein Grab; er zog die Straßenschuhe aus und setzte sich ins Wohnzimmer, den Lodenmantel zugeknöpft, die Hände in den Taschen, und schaute zum Bufett, auf dem die Fotografie stand, gerahmt, unbeweglich, zwei Gesichter, von denen das eine lächelte und das andere nur schaute.
Er setzte sich wieder. Auf dem Tisch lagen zwei Scheiben Brot auf einem blauen Teller, daneben, in Klarsichtfolie verpackt, Wurstaufschnitt auf einem zweiten, blassroten Teller; eine Butterdose, ein Senfglas, eine leere Flasche Bier. Seinen Mantel hatte Paul Weber inzwischen ausgezogen, genauso wie seine Kniebundhose. Stattdessen trug er ausgewaschene Jeans und darüber das rotweiß karierte Hemd, das er schon in der Arbeit angehabt hatte; er wollte es wechseln, aber dann hatte er nicht den Elan dazu.
Wie erwachsen musste ein Mann werden, um nicht dem erstbesten Kind, das von zu Hause weglief, hinterherrennen zu wollen und zu rufen: Nimm mich mit, nimm mich mit! In den Tagen nach Elfriedes Beerdigung hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, einfach weg zu sein, ohne Nachricht, ohne Spur. Als ginge er nur schnell zum Zigarettenholen und … Wie erwachsen musste ein Mann werden, um zu begreifen, dass Erinnerungen sein Leben krönen und nicht die Gegenwart? Einundsechzig Jahre war er inzwischen alt, in seinem Beruf kamen ihm die Erfahrungen seines Alters fast täglich zugute, und er wusste sie zu nutzen. Hier, in seiner Dreizimmerwohnung, beschwerten ihn die Jahre wie ein Grabstein, unter dem er zu liegen meinte, ohne Luft und Licht, reglos, um auf eine Stimme zu horchen, die ihm nicht antwortete.
Manchmal war er so müde, dass er aufhörte, Gott zu hassen. Er war immer noch Mitglied der katholischen Kirche, er bezahlte Kirchensteuer, und einmal im Jahr ging er mit seiner alten Mutter, die am Schliersee wohnte, in einen Gottesdienst und faltete die Hände. Für die Dorfbewohner war er ein ehrenwerter Polizist, der an das Gute im Menschen glaubte und das Schlechte bekämpfte. Dabei tat er etwas ganz anderes; jedes Mal, wenn er in seinem Sessel saß und das Foto von sich und seiner verstorbenen Frau betrachtete, obwohl er es in dem fahlen Licht, das durch den Türspalt vom Flur hereinfiel, kaum erkannte, wurde ihm bewusst, was es war, das er jeden Tag tat, wenn er das Haus verließ und ins Büro ging: Er suchte bei den Menschen, mit denen er zu tun hatte – Kollegen, Zeugen, Verbrecher, Verdächtige, Hinterbliebene – nach den Merkmalen ihrer Einsamkeit, die alle ihre Handlungen und Worte erklärbar machten.
Paul Weber sah sich selbst als Einsamkeitsspezialisten, und wenn er es sich genau überlegte, dann war er das bereits gewesen, als Elfriede noch lebte und jede Stunde mit ihr ein Glück gewesen war und ihre gemeinsamen Stunden Girlanden der Zeit. Jeden zweiten Tag brachte sie ihm Diätkuchen und Kräutertee ins Büro, und so musste er nicht einmal während der Arbeit, bei der sich Hunderte von Überstunden anhäuften, auf sie verzichten. Schon damals erinnerte er sich manchmal an seine Kinderzeit, als er allein am Seeufer saß und mit den Schwänen redete oder den Steinen; es war, als säße er in einem endlosen Tal ohne Ränder, mit einem See, so weit wie das Meer, und einer einzigen leisen Stimme, seiner eigenen. Wohin er auch schaute, es gab niemanden außer ihn, und er fing an, sich für seine Einsamkeit zu schämen und am Sonntag in der Kirche dafür um Verzeihung zu bitten; bis er begriff, dass jeder eine Einsamkeit hatte, wie eine Stimme oder ein Haus, und dass keine dieser Einsamkeiten der anderen glich, sondern jeder in einer eigenen hauste, lebenslang. So erwachsen war er also schon damals gewesen und hatte es vergessen gehabt; darüber war er froh.
Er wuchtete sich aus dem Sessel, nahm sein Abendessen mit, das er nicht angerührt hatte, ging in die Küche und holte sich ein frisches Bier aus dem Kühlschrank. Er wünschte, sein Kollege Tabor käme bald ins Dezernat zurück, denn mit ihm konnte er über solche Dinge sprechen, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
Außerdem, davon war Paul Weber überzeugt, würde Tabor es schaffen, den kleinen Raphael zu finden. Und auf
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