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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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jetzt, beim fünften Glas Chianti, kam es ihr so vor, als habe er ihre Hand bis heute nicht freigegeben. Er hielt sie immer noch fest, obwohl sie sich von ihm mit aller Macht entfernt hatte, unter Schmerzen wie Wehen, und doch: Wenn ihr Blick auf das Telefon fiel, erwartete sie in diesem Kasten seine Stimme, und wenn von ihm die Rede war, wie in den vergangenen drei Tagen mehrere Male, musste sie aus dem Zimmer gehen, weil ihre Tränen im Büro nichts verloren hatten.
    Seit neun Monaten hatte er sich nicht bei ihr gemeldet, und sie hasste ihn dafür. Keine Distanz, keine Gelassenheit, sie hasste ihn so stark, wie sie ihn liebte, und sie verfluchte ihn so oft, wie sie ihn umarmte, sie wollte ihn nie wieder sehen und so schnell wie möglich, sie hatte panische Angst vor dem Tag, an dem er ins Dezernat zurückkehren und seine Arbeit wieder aufnehmen würde, und sie sehnte sich nach diesem Moment.
    Doch eines würde sie niemals tun, dazu würde sie sich nicht hergeben, das hatte sie sich geschworen, und dieser Schwur war heilig: Unter keinen Umständen würde sie ihn bitten zurückzukommen oder ihn anbetteln, seine Existenz als Waldschrat aufzugeben und wieder ein normaler Mensch zu werden, niemals! Entweder er kam freiwillig, oder er ließ es bleiben. Und sie würde ihm auch keinen Brief schreiben, nichts dergleichen. Und wenn ein Jahr verging und wenn zwei Jahre vergingen oder drei!
Er
musste handeln, nicht sie,
er
hatte sich aus der Verantwortung gestohlen, nicht sie. Sie hatte ihm nie vorgeworfen, schuld am Tod von Lucia Simon zu sein, das tat immer er selber, fast war es so, als
wolle
er schuld daran sein.
    Wieso hatte sie plötzlich dieses Bild vor Augen gehabt: in einem Zugabteil zu sitzen und nach Süden zu fahren? Sie goss den Rest Wein ins Glas und erschrak ein wenig über ihr stilles Trinken. Dann brachte sie die Flasche in die Küche und stellte sie zu den übrigen leeren Flaschen, die sie in einem Bastkorb sammelte.
    Sie war müde und wusste, es würde trotzdem mindestens eine Stunde dauern, bis sie einschlief. Wut stieg in ihr auf, weil sie morgen, heute, wieder um sieben Uhr aufstehen musste und weil alle ihre Kollegen schufteten, nur einer nicht; der hockte im Wald und geißelte sich; und scherte sich einen Dreck um seine Pflichten, dachte nur an sein eigenes Befinden, vergrub sich in Selbstmitleid und ließ seine Kollegen im Stich. Es war ihr egal, ob er suspendiert werden würde und was dann aus ihm wurde, es war ihr egal. Es ist mir egal, ich bin nicht die Hüterin seiner Zukunft, schon lang nicht mehr.
    Und sie ging zum Fenster und schob das Telefon hinter den bauchigen, weißen Übertopf der Palme, so dass es vom Zimmer aus nicht mehr zu sehen war. Sie drehte sich um und wollte ins Badezimmer gehen, als es klingelte.
    Das Telefon klingelte nicht laut, es knurrte, es knarrte. Sie erschrak und schaute die Palme an, als wäre sie es, die klingelte. Dann griff sie zum Hörer.
    »Hallo?«, sagte sie und hielt den Hörer ein paar Zentimeter vom Ohr weg, da sie dem Klingeln nicht traute.
    »Sonja? Es ist spät, entschuldige! Komm bitte sofort ins Dezernat! Wir haben eine Entscheidung getroffen, Volker und ich, und das betrifft auch dich, dich vor allem.«
    »Ich will schlafen«, sagte sie.
    »Komm bitte, du kannst anschließend drei, vier Stunden schlafen«, sagte Karl Funkel.
    »Es ist vier Uhr morgens.«
    »Ja. Außerdem haben wir eine neue Spur, der wir sofort nachgehen müssen. Aber zuerst muss ich mit dir was besprechen. Also bis gleich.« Er legte auf, und sie brachte den Hörer nicht aus der Hand; wie ein Magnet klebte er fest.
    Dann hörte sie ein Geräusch und drehte den Kopf. Draußen auf dem Fensterbrett hockte eine Amsel und klopfte mit ihrem gelben Schnabel sacht an die Scheibe.

7
    Tabor Süden
    N ein!«
    Als sie es das erste Mal sagte, stand sie auf, sah die beiden Männer an, die ihrem Blick nicht auswichen, und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. So vergingen zwanzig Sekunden, ohne dass jemand ein Wort sprach. Dann lehnte sich Volker Thon zurück und zuckte mit den Schultern, während Karl Funkel sie weiter fixierte.
    Als sie es das fünfte Mal sagte, stand sie bereits an der Tür und knöpfte sich den Mantel zu. Und weil das Geräusch des Regens, der wieder eingesetzt hatte und auf das Blechdach vor dem Fenster prasselte, ihre Gereiztheit noch steigerte, sagte sie es ein sechstes Mal.
    »Nein!«
    »Damit ist die Angelegenheit erledigt«, sagte Thon und klopfte mit dem

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