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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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erzählen uns alles noch einmal, und zwar jede Kleinigkeit«, sagte Funkel, und ihm war nicht wohl dabei. Es war eine Erfahrung, die jeder machte, der lang genug bei der Kripo war: Jemand, der einmal lügt, lügt immer wieder, und wenn er noch so tut, als habe er eingesehen, dass ihm nur die Wahrheit hilft. Irgendetwas stimmte an der Geschichte von August Anz nicht, und Funkel hatte keine Idee, was es war.
    Dass der Friedhofsgärtner dem Jungen etwas angetan hatte, glaubte Funkel nicht, freilich würde er mit dieser Einschätzung in wenigen Stunden allein dastehen. In dem Moment, in dem bekannt wurde, dass die Polizei einen Mann aufgetrieben hatte, der den Jungen nach seinem Verschwinden nicht nur gesehen, sondern ihn sogar beherbergt hatte, würde jeder davon ausgehen, dass dieser Mann genau wusste, was mit Raphael passiert war; und je länger es dauerte, bis der Junge gefunden wurde, desto mehr Spekulationen würde es über seinen möglichen Tod geben, und die Polizei würde wieder einmal als ein Haufen von Versagern dastehen.
    Es war üblich, dass Beamte, die bei ihren Vernehmungen nicht weiterkamen, gegen andere ausgetauscht wurden, und genau das hatte Funkel jetzt vor: Er wollte Sonja Feyerabend mit August Anz konfrontieren und war entschlossen – trotz des zu erwartenden Protestes von Volker Thon –, seinem zurückgekehrten Kollegen eine Chance zu geben, vielleicht hatte Tabor da draußen im Wald seine Fähigkeiten nicht vollkommen verloren.
     
    In dem niedrigen Durchgang zwischen dem Bürgersteig und dem Innenhof der Wohnanlage an der Schlierseestraße blieb er stehen und hustete. Schweiß lief ihm übers Gesicht, und der Haarkranz klebte auf seinem Kopf. Er hätte die dicke türkisfarbene Bomberjacke ausziehen oder zumindest den Reißverschluss öffnen können, aber er konnte nicht. Er hatte keine Kraft. Seine Knollennase war ein Berg roter Äderchen, und seine Augen waren blutunterlaufen.
    Seit zwei Tagen hatte Martin Heuer nichts gegessen außer einer trockenen Semmel und einem Hamburger, den er auf der Toilette des Lokals sofort wieder erbrochen hatte. Er hatte getrunken, unaufhörlich getrunken, so lange, bis er sich wieder nüchtern fühlte. Dann hatte er sich hinters Lenkrad seines Wagens gesetzt und war durch die Stadt gefahren, orientierungslos, panisch vor etwas, das er nicht benennen konnte, vielleicht war es die Angst, erwischt zu werden, vielleicht war es auch nur die Beklemmung in seinem Herzen, die nicht aufhörte, seit er den Bericht über den Rumänen, der auf ihn geschossen hatte, fertig getippt hatte.
    Vor acht Jahren hatte er in demselben Durchgang gestanden wie jetzt und das grüne, lang gestreckte Gebäude im Innenhof angestarrt, dessen Parterrewohnungen Fensterläden hatten wie die ockerfarbenen Wohnblocks daneben, die von den zur Straße hin gelegenen Häusern umschlossen wurden. Heuer erinnerte die Wohnanlage an ein Fort aus Indianerfilmen, und gemeinsam mit seinem Freund Tabor hatte er hier früher Wettbewerbe im Bogenschießen veranstaltet.
    Vor acht Jahren stand er schon einmal hier, so wie jetzt, geduckt im niedrigen gewölbten Durchgang, schweißnass und weiß wie die Wand. Bei einer Routinekontrolle hatte ein Mann eine Pistole gezogen und auf ihn geschossen. Der Kerl hatte ihn nicht getroffen, weil er zu hastig abgedrückt hatte, aber Heuer war so erschrocken, dass er tagelang wie paralysiert war; immer wenn er einnickte, sah er die Szene vor sich und sich selbst, wie er erstarrt dastand, in Erwartung der tödlichen Kugel. Tabor wollte ihn überreden, zum Polizeipsychologen zu gehen, aber Martin hatte nichts übrig für solche Ärzte, er hatte für keinen Arzt viel übrig, und so blieb er mit seinem Horror allein; zumindest ließ Tabor ihn bei sich wohnen, ein paar Tage, bis Heuer behauptete, er sei darüber hinweg.
    Aber er war nie darüber hinweggekommen.
    Und nun hatte wieder jemand auf ihn geschossen, aus nächster Nähe, und wieder hatte er es nur einem unfassbaren Glück zu verdanken, dass er noch lebte.
    Er zitterte und traute sich nicht, ins Freie zu treten. Oben im dritten Stock des grünen Hauses lag Tabors Wohnung, Deisenhofener Straße 111. Tabor sagte immer, das sei eine Glückszahl, hundertelf, Quersumme drei, aber hatte sie ihm wirklich Glück gebracht? Nach der Sache mit der vergrabenen Frau war Tabor ein gebrochener Mann gewesen, so wie er, Martin, in diesen Tagen der Verdammnis ein gebrochener Mann geworden war. Und da war niemand, der sich nach ihm

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