Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
bückte.
    Im Dezernat hatten sie ihm gesagt, Tabor sei tatsächlich zurückgekehrt, also hatte Sonja ihn rumgekriegt, was für eine Frau! »Sonja!« Er sprach ihren Namen aus, weil er den Klang mochte, und noch einmal: »Sonja!«
    »Entschuldigung?«, sagte jemand. Vor Schreck sprang er zur Seite und schlug mit der Schulter gegen die Wand.
    Eine alte Frau mit einer gefüllten Einkaufstasche kam ihm entgegen. Sie trug ein Kopftuch und einen grauen Mantel und hatte einen krummen Buckel.
    »Suchen Sie wen?«, fragte sie, legte den Kopf schief und musterte ihn.
    »Den Herrn Süden«, sagte er automatisch.
    »Den hab ich lang nicht mehr gesehen. Der Polizist, gell?«
    »Ja.«
    »Haben Sie schon bei ihm geklingelt?«
    »Ja«, log er.
    »Und er hat nicht aufgemacht?«
    »Nein.«
    »Dann wird er nicht daheim sein, gell.« Sie setzte ihren Weg fort, und er schaute ihr hinterher, eine gekrümmte Gestalt, die ihre Lebensmittel für den Tag bei sich hatte und wahrscheinlich schon Jahrzehnte hier wohnte und keine Eile mehr hatte, kein Verlangen nach Abwechslung, und die darauf hoffte, dass der Herrgott sie schnell erlösen möge, wenn es so weit war.
    Nicht mehr so viel trinken, sagte er zu sich, ich muss aufhören zu trinken und mich zu bemitleiden. Gott erhöre mich, wenn es dich gibt, was Charly immer behauptet, aber ich bin mir nicht sicher. Er steckte sich eine Camel-ohne in den Mund und suchte in den Taschen nach Streichhölzern. Hinter einem Fenster wurde eine Gardine beiseite geschoben, und die Silhouette eines alten Mannes tauchte auf; reglos beobachtete dieser den Fremden, der sich eine Zigarette anzündete und die Streichholzschachtel betrachtete.
    Der Aufkleber der Schachtel war schwarz, in der Mitte ein rotes Herz, und auf der Rückseite stand die Adresse eines kleinen bayerischen Bordells im Stadtteil Berg am Laim, es hieß
Zur g’maaden Wiesn,
und der Slogan lautete:
Entspannung pur für Dich und Deine Freunde.
Martin behielt die Schachtel in der Hand, als er zu dem grünen Haus hinüberging und in den dritten Stock hinaufschaute. Die Fenster waren geschlossen. Er klingelte nicht. In der Jackentasche, in die er die Streichhölzer steckte, knisterte es, und ihm fiel ein, dass er schon lange nichts mehr geschrieben hatte, und das wollte er bald nachholen. Das Mädchen, das er hernach für ihre Gegenwart bezahlen wollte, würde ihn bestimmt fragen, was er da treibe, anstatt es mit ihr zu treiben, und er würde sie auf einen weiteren Piccolo einladen und weiter schreiben. Einen besseren Ort als
Zur g’maaden Wiesn
konnte er sich zum Schreiben sinnloser Sätze, wie er sie seit zwei Tagen zu Papier brachte, in dieser Stadt nicht vorstellen. Warum war er nicht schon früher drauf gekommen? Wo kam plötzlich diese Streichholzschachtel her?
    Kleine Welt, sagte er zu sich, als er den Durchgang verließ und wieder auf der Schlierseestraße stand, wo er vor einigen Tagen mit Sonja gestanden und dieselbe Bemerkung gemacht hatte. Gegenüber, nach hinten versetzt, war das Haus, in dem Georg Vogel, der Großvater des kleinen Raphael, gewohnt hatte, mit der Modelleisenbahn im Keller und den Schienen, die übers Wasser führten. Vielleicht war Tabor dem Mann schon einmal begegnet, beim Einkaufen, auf der Straße, am Bahnhof, der ganz in der Nähe lag, und sie hatten sich nicht erkannt.
    Nach fünf Minuten fand Heuer sein Auto wieder. Der Schlüssel fiel ihm aus der Hand, er bückte sich und musste sich übergeben. Dann setzte er sich röchelnd hinters Lenkrad und umklammerte es mit beiden Händen, während er bei offenem Fenster in tiefen Zügen Luft holte.
    Es ging ihm besser, das Brennen im Magen wurde weniger, und er hatte plötzlich Lust auf eine Frau, und nicht auf eine wie Saba, die er im
Iwan
getroffen hatte und die mindestens fünfzig war und mit ihrer Zunge in seinem Mund herumgewedelt hatte, dass ihm fast schwindlig geworden war.
    Noch einmal las er auf der Streichholzschachtel die Adresse des Bordells, bevor er losfuhr.
    Er drehte das Radio lauter, weil er es manchmal ertrug, wenn seine Jugend ihn plötzlich anplärrte.
B-B-Baby, you just ain’t seen n-n-nothing yet, here’s something that you never gonna forget, B-B-Baby you just ain’t seen nothing yet …
     
    In kurzen Sätzen resümierte Karl Funkel die Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen und achtete darauf, seine Zuhörer zwischendurch anzusehen und direkt in die Mikrofone zu sprechen, die vor ihm aufgebaut waren. An der Pressekonferenz, die im großen

Weitere Kostenlose Bücher