Die Erfindung des Jazz im Donbass
langen schweren Reise aus. Ich kroch aus dem Schlafsack und bemerkte, dass weder Karolina noch ihre Freundin im Zelt waren und dass ich überhaupt ganz allein hier war. Mehr noch, das Zelt war leer, Schlafsäcke, Kleidung, der Schwarzweißfernseher, Bücher und Taschen, Karten und Socken – alles verschwunden. Böses ahnend ging ich nach draußen. Vom Lager waren nur Ruinen und Aschereste geblieben. Schwarze Rauchfäden stiegen, hungrigen Kobras gleich, in den Himmel. Die Trampelpfade verschlangen sich zu einem seltsamen, verworrenen Muster, Piloten und Vögel hätten die Routen herauslesen können, auf denen sich wilde östliche Stämme in unbekannte Richtung und mit unbekanntem Ziel bewegten. Ich hatte keine Ahnung, wann sie sich davongemacht hatten, wie sie das unbemerkt hatten tun können, warum ich nichts gehört hatte. Im Feld standen noch ein paar große, vom Wind geblähte Zelte und die Masten mit den EU -Fahnen, und unten in der Senke machten sich ein paar Soldaten an den Biotoiletten zu schaffen und versuchten, die blauen Kabinen auf den Anhänger eines Militärschleppers zu hieven. Neben dem Schlepper, dort wo die Wassertonnen gestanden hatten, glänzte weiß der Kirchenwolga.
*
Tamara sah niedergeschlagen aus, sie redete stockend, sah sich aber gezwungen, mir alles zu erklären. Am Morgen habe Karolina sie angerufen und gebeten, zu kommen und mich abzuholen, sie habe ihr beschrieben, wo ich mich befinde, sich entschuldigt, dass sie ihr Mühe bereite, aber versichert, dass es unmöglich sei, mich mitzunehmen, da die Mongelen so etwas als schlechtes Omen ansahen und damit drohten, alle Beziehungen zur Friedensmission abzubrechen.
– Na gut, – sagte ich, als ich schon auf dem Rücksitz Platz genommen hatte und die Oktoberpappeln zählte, die am Straßenrand wuchsen, – und woher kennt sie dich?
– Das ist eine lange Geschichte, – antwortete Tamara unwillig. – Sie hat früher mit uns zusammengearbeitet. Hat der Kirche humanitäre Hilfe überbracht. Sie haben gute Beziehungen zu unserem Priester, er hilft ihnen ständig, mal mit Papieren, mal mit guten Worten. Und sag selbst – sie hätte ja wohl kaum bei der Miliz anrufen sollen, oder?
– Klar, – stimmte ich zu, – besser beim Kirchenasyl.
– Wirklich besser, – stimmte Tamara zu. – Aber sie hätte auch bei der Miliz anrufen können.
– Oder mich mitnehmen.
– Unmöglich, – erklärte Tamara, – die Mongolen hatten Angst, sie fürchteten, du würdest an ihnen kleben. Sie können keine Fremden brauchen, sie folgen ihren eigenen Gesetzen. Sei froh, dass sie dir nichts getan haben. Treibst dich sonstwo rum, – erregte sie sich.
– Na gut, – sagte ich, – sei nicht böse. Wie steht’s daheim? Sucht man mich?
– Man sucht dich, – antwortete Tamara, – sie sind zur Kirche gekommen und haben mit dem Priester gesprochen.
– Und der Priester?
– Nichts, – beruhigte mich Tamara, – er hat gesagt, dass er von nichts weiß.
– Und was nun?
– Nichts, – sprach Tamara. – Wart einfach ab. Was regst du dich auf?
– Warum ich mich aufrege? Ich sag dir, warum. Hast du schon mal mit zwei Lesben in einem Zelt geschlafen?
– Hab ich, – antwortete Tamara.
– Lass uns irgendwo anhalten, – bat ich. – Ich habe Durst.
*
Der grüne Bauwagen ruhte auf einem Ziegelmäuerchen, unter den Bäumen standen lange Bänke, mit Ketchup und Speiseöl verschmiert. Es war eine Art Rastplatz, ein gemütlicher Hafen mit freundlichen Tänzerinnen und Kindergesang, mit Vögeln, die verführerisch irgendwas zwitscherten, und Reisenden, die neuste Nachrichten austauschten und vor Fallen und Gefahren warnten.
Wir waren die einzigen Gäste. Aus dem Wagen kam eine füllige Frau mit rötlichen Haaren und roten Nägeln, musterte uns skeptisch, fragte, was wir wünschten, und verschwand wieder. Tamara und ich setzten uns auf eine Bank und schwiegen voller Unbehagen, Sjewa weigerte sich auszusteigen, bat aber um etwas Heißes zu trinken. Die Sonne erwärmte die herbstlichen Felder, so gut sie konnte, ein milder Wind trug von Osten her den Geruch von Rauch und trockenem Gras heran, um uns war es leer und still, nach allen Seiten dehnten sich nackte Schwarzerdegebiete, am Horizont erhoben sich rote Kiefern. Die Luft war wie aus Gerüchen und Spiegelungen gewebt, als wäre sie nicht Luft, sondern Fahnen, die unter der Sonne brannten und im Oktoberwind flatterten. Und auf diesen Fahnen waren lange klebrige Spinnwebfäden dargestellt und feine
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