Die Erfindung des Jazz im Donbass
Linien müder Pflanzen, geschnitten, gerupft und gebündelt von Frauenhänden, außerdem Vögel, die den Raum in südliche Richtung durchschnitten und jene dichte, abgestandene Luft zurückließen, die über unseren Haaren schwamm. Träge Herbstmücken krabbelten über die Fahnen und verschmolzen mit der Farbe der Erde und des Himmels, und die ausgeleierten Banner rochen nach Schlamm und nassem Sand, denn gleich hier floss ein Fluss und schwemmte Blätter und geschnittene Ähren mit sich fort. Tamara trug den mir bekannten kirschroten Pullover und den langen Rock, die Augen verbarg sie hinter einer großen Sonnenbrille, mit der sie der Witwe irgendeines Mafiosi glich, der gestorben war, den sie aber, obwohl er sie gequält hatte, immer in ihrem Herzen trug. Sie rauchte viel, trank Tee aus Einwegtassen, wollte nicht essen, saß da und schaute den Schmetterlingen zu, die auf die Zuckerwürfel flogen, die vor uns standen. Die Sonne und die Herbstluft machten diese Rast fantastisch und gespenstisch, alles konnte gleich platzen und zerfallen, die Tage erinnerten an Zucker, den jemand leichtsinnig vergessen hatte und der jetzt in der Sonne aufflammte, die Augen blendete und die Vorstellung befeuerte, er erinnerte daran, dass jeden Moment unerwartete und unvorhersehbare Ereignisse eintreten konnten.
– Du ziehst erst mal zu mir, – sagte Tamara. – Bei mir sucht man dich bestimmt nicht.
– Ich fahr lieber heim, – widersprach ich. – Was können sie mir schon tun? Dann finde ich wenigstens heraus, was das Problem ist.
– Red keinen Stuss, – sagte Tamara. – Warum willst du das riskieren? Verhalt dich ein paar Tage still, dann gehst du zurück. Schura hab ich schon Bescheid gesagt, er hat nichts dagegen.
– Hauptsache, Schura hat nichts dagegen.
– Und in ein paar Tagen gehst du zurück. Gut?
– Gut, – stimmte ich zu. – Tamara, – fragte ich dann, – warum bist du hiergeblieben?
– Wohin hätte ich gehen sollen? – fragte sie verständnislos.
– Irgendwohin. Ins Ausland. Warum bist du geblieben?
Sie nahm die Brille ab. Sofort wurde klar, dass sie schon längst einen Haufen Jahre auf dem Buckel hatte, dass sie nicht so jung und unbeschwert war, wie es in der Dämmerung eines Pkw nach zwei Tagen fröhlichen Feierns hatte scheinen mögen. Ihr Gesicht war blass, ihr Blick unstet. Zwischen zwei großen, schwarz-silbrigen Ringen zitterte die Zigarette kaum merklich in ihren Fingern.
– Du wolltest doch bestimmt weg? Was könnte dich hier halten?
– Ja was eigentlich? – antwortete sie nachdenklich. – Es gibt immer Dinge, die einen halten.
– Also hör mal, was uns hält, ist doch, dass wir uns des morgigen Tages sicher sein können. Aber kannst du dir des morgigen Tages sicher sein?
– Nein, – gestand sie, – kann ich nicht. Aber des gestrigen Tages bin ich mir sicher. Das hält mich.
– Wieso?
– Kann ich schwer erklären, – bekannte Tamara, – lass uns lieber fahren.
*
Seit der Beerdigung ihrer Mutter war ich nicht mehr hiergewesen. Weil ich mich erinnerte, was damals alles passiert war, betrat ich ihre Wohnung mit einigen Zweifeln. Aber Tamara lief geschäftig durch die Zimmer, ohne mich zu beachten, also vergingen meine Zweifel schnell und machten einer Gewissheit und seltsamen Melancholie Platz, die offensichtlich mit den süßen Erinnerungen und einem dumpfen Vorgefühl zusammenhing. Obwohl, rief ich mich selbst zur Ordnung, welche süßen Erinnerungen? Schließlich haben wir sie beerdigt, die Mamma von wem auch immer. Überhaupt, rief ich mich weiter zur Ordnung, sei dankbar, dass sie gekommen ist und dich rausgeholt hat aus dem mongolo-tatarischen Sündenpfuhl, dass sie sich um dich kümmert und dich nicht den Behörden oder dem organisierten Verbrechen ausliefert. Halt ein paar Tage still, bis sich alles geklärt hat, und dann kehrst du mit reinem Gewissen an deine Zapfsäulen zurück. Hauptsache, du quälst sie nicht mit Erinnerungen an die Mamma und versprichst ihr nicht die Ehe.
– Hör mal, Harry, – unterbrach sie meine Gedanken, – ich muss los, bewache du Haus und Hof. Mach niemandem auf, geh nicht ans Telefon und auch besser nicht ans Fenster.
– Warte doch, – sagte ich, – wohin gehst du?
– Ich hab was zu erledigen, – antwortete Tamara. – Du hast doch wohl kaum geglaubt, dass ich den ganzen Tag hier mit dir herumsitze?
– Überhaupt nicht, – antwortete ich beleidigt. – Geh nur. Wann kommst du wieder?
– Du brauchst nicht auf mich zu
Weitere Kostenlose Bücher