Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
Vom Netzwerk:
warten.
    – Aber ich muss dir doch die Tür aufmachen.
    – Ich hab einen Schlüssel, – sagte Tamara trocken. – Also warte nicht. Es wird spät.
    – Und was soll ich den ganzen Tag machen? – fragte ich.
    – Lies ein Buch, – sagte Tamara. – Ein Kinderbuch, zum Beispiel.
    *
    Im Wohnzimmer stand ein Bücherschrank. Sie hatte wirklich viele Kinderbücher, mit dem Stempel einer Fabrikbibliothek versehen, vor allem Sammelbände, aus denen die Gerüche vergangener Zeiten aufstiegen, Märchen und Science-Fiction, Erzählungen von heldenhaften Pionieren, historische Romane. In manchen Büchern fanden sich getrocknete Blumen oder alte Grußkarten zwischen den Seiten, aus anderen waren Seiten herausgerissen, oder jemand hatte mit Bleistift wundersame Muster und düstere Pentagramme an den Rand gemalt. Kein Einziges weckte mein Interesse. Da entdeckte ich plötzlich unten in der Ecke einen Stapel Zeitschriften, Schallplatten und ein voluminöses Fotoalbum. Die meisten Fotos waren akkurat eingeklebt, ein ganzer Stoß aber hatte im Album keinen Platz mehr gefunden, man hatte ihn einfach zwischen die ersten Seiten gelegt. Mit dem Album ging ich ins Schlafzimmer, wo an der Wand ein großes Schlafsofa stand, überhäuft mit weichen Kissen und Nackenrollen. Darüber hing ein chinesischer Synthetikteppich, der eine chinesische Teezeremonie zeigte. Die Figuren, die vor ihrem Tee saßen, kamen mir bekannt vor, irgendwo hatte ich diese Gesichter schon gesehen, irgendetwas sagten sie mir. Zwei Männer reichten dampfende Tellerchen, zwischen ihnen lag, von Kissen gestützt, eine schwangere Frau, die ihre Bewegungen aufmerksam verfolgte. Im Hintergrund waren Jurten zu sehen, die Touristenzelten glichen, und bei den Jurten stieg von Feuerstellen Rauch auf und verband die Erde mit dem Himmel, und zwischen den Rauchsäulen liefen satte Kuhherden umher, suchten Gras und trugen Milch in sich wie bittere Wahrheit.
    Ich fiel aufs Bett und öffnete das Album.
    *
    Wie Vögel im Netz, gefangen von geübter Hand, fixiert mit geschultem Auge, schauten sie mich starr und aufmerksam an, nicht wissend, was von mir zu erwarten war. Männer und Frauen, Kinder und Alte, Studenten, Soldaten, Arbeiter, Schulabgängerinnen in weißen Schürzen, Tote in Särgen, Silbermünzen auf den Augen, Säuglinge mit ihrem Lieblingsspielzeug – sie alle warteten, dass jemand in ihre Farb- oder Schwarzweiß-Pupillen blickte, um zu erfahren, was sie zusammengehalten und verbunden hatte, wie sie gelebt hatten und warum sie gestorben waren.
    Die Fotos, die extra lagen, waren offensichtlich zufällig zusammengekommen – die Gesichter darauf sahen unbekannt und fremd aus, ich kenne solche Bilder, sie werden immer in einem extra Stoß aufbewahrt, niemand will sie in die Familienalben aufnehmen, doch sie wegzuwerfen traut man sich in der Regel auch nicht, vielleicht, weil es einfach nicht gut ist, Bilder von lebendigen Menschen wegzuwerfen, deswegen liegen diese geschenkten, per Post zugeschickten oder von Amateuren zu unbekanntem Zweck aufgenommenen Fotos einfach in einem Stapel ähnlich ungewollter Bilder mit kaum bekannten Menschen drauf. Ich schaute sie nachlässig durch und legte sie beiseite.
    Die anderen Fotos dagegen, sorgfältig geordnet und eingeklebt, erzählten die Geschichte von Tamaras Familie und verrieten etwas über ihre Zukunft. Die alten Fotos auf den ersten Seiten waren noch schwarzweiß, an einigen Stellen geknickt, verkratzt oder mit Tinte beschrieben: wilde südliche Landschaften, schneebedeckte Berggipfel, Ziegeldächer, hohe Fenster, Steinmauern, unbefestigte Straßen und andere exotische Dinge, selbstbewusste Männer und stolze junge Mädchen mit pechschwarzen Haaren und weißen Zähnen. Sie schauten mich an, manche düster, andere lächelnd, angespannt oder lässig und unaufmerksam. Ich versuchte, in ihren Gesichtern Tamaras Züge zu entdecken, aber Tamara war ganz anders, sie unterschied sich irgendwie von diesem Bergvolk, vielleicht durch den müden Ausdruck ihrer Augen, vielleicht durch die Sonnenbrille. Obwohl es zweifellos Menschen waren, die ihr nahestanden, sie waren mit ihr verbunden, irgendwie gehörten sie zusammen, und ich versuchte, jene auf den ersten Blick unsichtbaren Details zu erkennen, die das Geheimnis ihrer seltsamen Familie preisgeben würden, ich betrachtete aufmerksam die Kleidung, Bildunterschriften und Datierungen, schaute mir die breiten Boulevards an, über die junge Frauen mit üppigen Frisuren flanierten, die

Weitere Kostenlose Bücher