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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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anfangen, damit alles wieder gut würde. Die verfuckte Zigeunerbande hatte ihn wieder gedemütigt und vor dem Grauen als Clown hingestellt. Nikolaitsch konnte sich vorstellen, wie der Graue im Büro davon erzählte, wie er Marlen Wladlenowytsch über sein, Nikolaitschs, Verhalten Bericht erstatten würde und wie er, Nikolaitsch, danach in den Augen der Meute dastehen würde, die für die Firma arbeitete, und für was für einen Wichser sie ihn halten würden. Wenn sie nicht gelacht, ihn nicht erniedrigt hätten, dann hätte er es vielleicht hingenommen und wäre damit fertig geworden, so aber hatten sie ihm das Herz durch die Kehle herausgezogen und waren mit ihren Stiefeln darauf herumgetrampelt. Und das ohne Ende. Er stand verloren da, Tränen der Verzweiflung in den Augen, und erinnerte sich schmerzhaft genau an dieses Gefühl der Erniedrigung, das zuzugeben man sich schämte und mit dem man lernen musste zu leben.
     
    Ernst erinnerte sich der alten deutschen Positionen, der Schützengräben voller Kiefernnadeln, die unter den Füßen federten, schlecht erhaltene und von allen vergessene Befestigungen. Er hatte lange danach gesucht, wusste von alten Frontkarten, dass sich hier, in dieser Gegend, Schützengräben befinden mussten. Aber keiner seiner Freunde, die von früh bis spät in den Wäldern und Sümpfen gruben, um Waffen oder Orden zu finden und vor allem von niemandem registrierte Wehrmachtsoldaten, für die viel Geld bezahlt wurde – keiner seiner Freunde wusste davon. Mehr noch – sie lachten über ihn und sagten: Junge, das ist wie mit deinen Panzern. Bild dir nichts ein, es gibt dort keine Schützengräben. Er aber, Ernst, machte sich die Mühe, mit den Einheimischen zu sprechen, einer gab schließlich zu, dass die Schützengräben wirklich existierten, aber tief im Wald, so dass man sie jetzt wohl kaum noch finden würde. Nach dem Krieg waren sie extra mit Kiefern bepflanzt worden, weil niemand Lust hatte, aus den Sanddünen die Granaten und Bomben zu bergen, die nach ’ 43 dort liegen geblieben waren. Also bepflanzte man die ganze Sandwüste einfach mit Kiefern, damit weniger Leute dort herumliefen. Auf allen vieren war Ernst durch die Wälder und Waldstreifen der Umgebung gekrochen und schließlich auf die zerfallenen Befestigungen gestoßen, kaum sichtbar zwischen den Kiefernwurzeln. Zwei Tage war er nicht aus den Sandgruben herausgekommen und hatte den heißen Sand sorgfältig gesiebt, der voller Kugeln, Hülsen und Uniformknöpfe war. Am Abend des zweiten Tages verpfiff ihn ein Einheimischer an die Bullen, die sofort angebraust kamen und den illegalen Archäologen Ernst Thälmann auf frischer Tat ertappten. Damals, als sie ihn in die Stadt aufs Revier brachten, hatte er etwas Ähnliches empfunden, er wusste, dass es ihm schlecht ergehen würde und dass er sich auf das Schlimmste gefasst machen musste.
     
    Schon nach der Seefahrtschule, als Nikolaitsch ein junger, vielversprechender Offizier war und von einer Karriere als Kapitän bei der Handelsmarine träumte, schon damals hatte er begriffen: Sosehr er auch dazugehören wollte, sosehr er sich anpasste, mit dem Kollektiv verschmelzen wollte – er blieb ein Außenseiter, ihm, Nikolai, fuck, Nikolaitsch wurde Hochmut und mangelnder Gemeinschaftssinn vorgeworfen. Und er konnte nicht einmal widersprechen, weil ihm nämlich wirklich jeder Gemeinschaftssinn abging, was auch gar nicht anders sein konnte. Seine Mutter, sein Vater, seine ganze Familie war so, hochmütig und ohne Gemeinschaftssinn. Und weder der Komsomol, in dem er sich engagierte, noch der Posten in der Leitung, den er sich schließlich erkämpfte, konnte das Gefühl der Unterlegenheit mindern. In jeder Gesellschaft und unter allen Umständen fühlte er sich minderwertig; sosehr er sich auch bemühte, was er auch tat, immer wurde er als Außenseiter behandelt. Und seine Versuche, normal zu wirken, wie einer von ihnen zu sein, verschlimmerten nur alles und führten dazu, dass man sich über ihn lustig machte. Seine Chefs mochten ihn nicht, seine Untergebenen brachten ihm keine Achtung entgegen, die Frauen gaben sich ihm nicht hin, und er wollte auch gar nichts von ihnen. Er hatte keine Freunde, keine Kinder, keine Haustiere. Vor den Leuten, für die er arbeitete, hatte er Angst, mehr noch, er hatte sogar Angst, über seine Angst zu sprechen. Und jetzt stand er hier und dachte panisch nach. Und seine Augen wurden rot vor Wut und Ausweglosigkeit.
     
    Dann erinnerte er sich noch an den

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