Die Erfindung des Jazz im Donbass
Zwischenfall an der ungarischen Grenze, in den Neunzigern. Er kam aus München zurück und fuhr über Wien. Ohne Geld, ohne Proviant, ohne Zigaretten. In München hatte er eine alte Freundin besucht, Raja Stern, mit der er auf der Uni gewesen war und die nach ihrem Abschluss erfolgreich ihren Nachnamen geändert hatte, in die BRD ausgereist war und jetzt im Restaurant »Samowar« als Sängerin auftrat. Nachdem er mit Raja ein paar wilde Tage und schlaflose Nächte verbracht hatte, von Gin und Whisky erleuchtet, machte sich Ernst auf nach Hause, wo Tamila auf ihn wartete, mit der alles gerade erst begann. Irgendein kroatischer Nationalist nahm ihn bis Wien mit und schmiss ihn dort nachts am Bahnhof raus. Er bestieg den Zug nach Belgrad und hoffte, die nächsten drei Stunden zu überstehen und in Budapest anzukommen, ohne kontrolliert zu werden. Irgendwie gelang es ihm tatsächlich, über die ungarische Grenze zu kommen, irgendwas im Himmel funktionierte, irgendwie löste er sich im Luftzug der Korridore auf, bequatschte die Grenzer, die ihm einen Stempel in den Pass setzten und ganz vergaßen, nach der Fahrkarte zu fragen. Die Schaffner fanden ihn weder auf der Plattform noch auf dem Klo, im Vollgefühl seines Sieges stieg er am Ostbahnhof aus, freute sich seines Erfolges und büßte seine Wachsamkeit ein. Zwar gelang es ihm noch, die Zugbegleiter des Moskauer Zugs zu überreden, ihn bis zur Grenze mitzunehmen, aber dort war Schluss. Weiter reichten weder sein Geld noch seine Frechheit. Ernst musste ihnen feierlich versprechen,
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an der Grenze auszusteigen, tarifgerecht. Alles wird gut, dachte er, die werden mich schon nicht mitten auf freiem Feld rausschmeißen. Hauptsache über die Grenze, dann ist es nicht mehr schlimm. So hatte er es sich gedacht, und das war sein Fehler. Er saß im leeren Abteil des Moskauer Zugs und sah zum Fenster hinaus, wo der warme Frühlingstag in den frischen kühlen Abend überging, am Horizont zerfloss rot die Sonne und wurde von den Spiegeln schräg zurückgeworfen. Je näher die Grenze kam, desto mehr zog sich seine Seele zusammen, denn es war klar, dass es ihm nicht gelingen würde, sie alle so einfach zu übertölpeln, er würde für seinen Leichtsinn und seine Selbstüberschätzung bezahlen müssen. Tatsächlich wurde er an der Grenze nicht rausgeschmissen, aber als die Zugbegleiter durch den Waggon gingen, warfen sie ihm so schwere Blicke zu, dass er alles verstand. Und nachts, als der Zug schon über eine Brücke rollte und schwere Lichter die schwarzen stickigen Abteile durchbohrten, als versuchten unbekannte Tiere, durch die Gardinen zu blicken, saß er im Dunkeln, hörte das Stoßen der Räder und das Pochen seines eigenen Herzen und wusste, dass das Unvermeidliche geschehen würde und dass man immer auf das Schlimmste gefasst sein muss.
Am schlimmsten war das Gefühl der Ausweglosigkeit, das ihn überkam und immer stärker wurde. Plötzlich sah er ganz deutlich vor sich, woran sich zu erinnern er tunlichst vermied. Woran er sogar Angst hatte zu denken. 1993 , Singapur. Schon eine ganze Woche lagen sie dort, auf einem rostigen griechischen Seelenverkäufer, den man für ein paar Kopeken den Deutschen abgekauft hatte und der jetzt unter der fröhlichen liberischen Flagge fuhr. Eine internationale Besatzung, zum Äußersten bereit, der Kapitän ein Grieche, ein Teil der Crew Philippinos, der Rest – sie, seine Landsleute. Nikolaitsch war zweiter Offizier, für die Mannschaft Objekt der Häme, für den Griechen Objekt des Hasses, ein komisches glatzköpfiges Männchen, das niemand mochte, nicht mal die Schiffsratten. Wie er sich abmühte, um akzeptiert zu werden, wie er sich verbog, um dazuzugehören! Er verbog sich und wusste, wie widerlich das wirkte. In ihren Augen war und blieb er ein Wichser und Weichei. Selbst in den Schlitzaugen der Philippinos, wo man doch dachte, dass die nichts über Wichser und Weicheier wüssten. Er hörte das Lachen hinter seinem Rücken, sah die Augen, die ihn höhnisch und respektlos anstarrten, er stellte sich vor, was sie über ihn redeten, und seine Augen füllten sich mit Tränen und Wut. Aber das Schlimmste passierte in Singapur. Das vergaß er nie.
Sie verprügelten ihn zu dritt, daran erinnerte sich Ernst ganz deutlich. Sie prügelten nicht lange und auch nicht sehr geübt, als es zu Ende war, wischte er sich einfach das Blut von der aufgeplatzten Lippe, warf den leeren Rucksack über die Schulter und schlurfte Richtung Bahnhof, um
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