Die Erfindung des Jazz im Donbass
Tamara erzählen. Gleich erzähl ich dir alles, mein Freund.
So viel hat er mir dann, glaube ich, gar nicht erzählt, an das meiste habe ich mich später selbst erinnert, als ich darüber nachdachte und mich wunderte, wie viel man in einem normalen Gedächtnis speichern kann und wie schwer es ist, später darin etwas wiederzufinden. Wie funktionieren diese Mechanismen? Was hat er mir tatsächlich erzählt? Irgendwas über die Kleider, er hat etwas über ihre Kleider gesagt. Lange Haare, dunkle, aber nicht gebräunte Haut, und ihre Kleider. Wieso nicht gebräunt? Was meinte er damit? Plötzlich erinnerte ich mich – sie hatte ein schwarzes Kleid an, solche Kleider trug sonst niemand in der Stadt. Und uns, den Jungs aus der Schlafstadt, stockte bei ihrem Anblick der Atem. Sie trug tatsächlich dieses Kleid, so schwarz, dass es ihre Haut sogar gegen den schneeweißen Kittel blass erscheinen ließ. Aber was konnten wir damals schon sehen? Kotscha sah viel mehr als wir, er sah sie mit Kleidern und ohne, wer sonst konnte also von ihrer Bräune berichten. Plötzlich erinnerte ich mich ganz genau an die Abenddämmerung, an den warmen Sand auf den Gehsteigen, der rot war von heruntergefallenen Maulbeeren, an Kotscha, der zwei fremde Aseris an den Haaren hinter sich herschleift und sie gegen die Zäune zum Privatterrain donnert, irgendwo hinter dem Reparaturwerk, gleich daneben erstreckt sich der Werkszaun ins Unendliche, und wir stehen ein Stück entfernt, wir stehen und mischen uns nicht ein, weil Kotscha mit seinen Gegnern allein fertig werden muss. Tamara kreischt und versucht ihn zu stoppen. Sie schreit, dass niemand sie angetastet habe, die Aseris schreien auch, dass sie niemanden angetastet hätten, aber Kotscha reißt weiter die Zäune mit ihnen nieder, da läuft sie davon und verschwindet in der Dunkelheit. Kotscha rennt ihr nach, wir helfen den Aseris auf die Beine und waschen ihre Wunden mit Wodka aus, weil wir wissen, dass sie tatsächlich niemanden angetastet haben.
– Ja, Kumpel, – holte mich Kotscha in die Gegenwart zurück, – kapierst du, sie war erst siebzehn, als ich sie getroffen habe, aber so was, sag ich dir, habe ich in keinem Bordell gesehen.
– Und du warst wohl in vielen Bordellen? – fragte ich ungläubig.
– Harry, – Kotscha fühlte sich beleidigt, – ich war doch bei den Fallschirmjägern. Alle Mädels gehörten uns.
– Klar.
– Ich habe mich ihretwegen drei Jahre lang geprügelt, – fuhr Kotscha fort. – Man konnte sie nicht alleine lassen, glaubst du mir?
– Ja, das glaub ich dir.
– Dann beschloss sie abzuhauen. Ihre Eltern erlaubten mir sowieso nicht, sie zu heiraten. Das Gesetz der Berge, Kumpel, das Gesetz der Berge.
– Und sie ist tatsächlich abgehauen?
– Scheiß drauf, – antwortete Kotscha zufrieden. – Ich hab’s spitzgekriegt und mich in denselben Zug gesetzt. Sogar in denselben Waggon. Wir zuckelten dann eine ganze Woche durch Bahnhöfe, von hier bis nach Rostow. Ein paar Mal versuchte sie rauszuspringen, ich hielt sie zurück. Wir schliefen auf Bahnhöfen, tranken in Speisewagen Sekt, fetzten uns, dass das Blut spritzte, glaubst du das? – Kotscha erinnerte sich an diese goldenen Tage, lehnte sich im Stuhl zurück und schaute ab und zu aus dem Fenster. – Und sie kam zurück. So war’s. Sie blieb bei mir. Aber ihre Eltern waren ein Problem. Die hassten mich einfach. Dann behaupteten wir, sie wäre schwanger, kapierst du? Da willigten sie ein.
– Und war sie wirklich schwanger?
– Wo denkst du hin, – antwortete Kotscha. – Ich wollte nicht, dass sie schwanger wird.
– Wieso denn das?
– Ich hatte Angst, dass es nicht mein Kind wäre. Kumpel, was die trieb . . .
Kotscha brach verträumt ab. Dann fuhr er fort:
– Es hat aber trotzdem nicht geklappt mit uns. Die Eltern kamen zur Hochzeit und blieben bei uns wohnen, so dass nichts daraus wurde. Zigeunerbande eben.
– Zigeunerbande? – fragte ich verständnislos.
– Genau, Zigeunerbande.
– Warum Zigeunerbande?
– Darum eben, – Kotscha wollte es nicht näher erklären. – Die Weiber sind schuld, ich seh ja, was mit dir los ist. Ich weiß, warum du am Durchdrehen bist.
– Schon gut, – ich wehrte mich schwach.
– Mir bleibt nichts verborgen, Hermann, mir bleibt nichts verborgen.
Da sah er etwas vor dem Fenster und ging hinaus.
Was es wohl war, was sie gemacht hat, dachte ich. Das Sonnenlicht flutete das Zimmer, die Bettdecke war steif und warm wie Straßensand,
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