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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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alle diese Businessmeny, die hinter dem Schrott in den Kolchosen her sind, zum Teufel scheren. Haben die Flugzeuge verkauft, Arschlöcher, – er schenkte wieder ein.
     
    Erst jetzt merkte ich, wie besoffen er war. Daher wollte ich ihm gar nicht widersprechen. Schließlich, dachte ich, warum nicht Flugverkehr. Nicht gerade der schlechteste Traum für jemanden, der in einer ehemaligen Kantine lebt.
    – Okay, Hermann, – fuhr Ernst fort. – Die Zeit arbeitet für uns. Und überhaupt, – er wechselte plötzlich das Thema, – die Geschichte lehrt uns überhaupt nichts. Kannst du dir den Panzerkrieg vorstellen? Es ist wie die Völkerwanderung. Stell dir mal diese einfachen deutschen Mechaniker vor, junge Kerle, die meisten sind vorher noch nie so weit von ihrem Elternhaus weggewesen. Da bist du also in einer deutschen Kleinstadt geboren und aufgewachsen, dort in die Kirche und zur Schule gegangen, hast deine erste Liebe erlebt, dich nie besonders für Politik interessiert, dass der Kanzler gewechselt hat zum Beispiel. Und dann beginnt der Krieg, und man zieht dich zur Armee ein. Du machst die Grundausbildung und bist nun Panzergrenadier. Du rückst nach Osten vor, immer weiter und weiter in östliche Richtung, überschreitest Grenzen, nimmst fremde Städte ein, vernichtest feindliche Waffen und Soldaten. Und überall – verstehst du, überall – sind es ungefähr solche Städte und Landschaften, wie du sie aus deiner Heimat kennst. Und auch die Menschen sind im Grunde genommen, wenn man mal von den Kommunisten und Zigeunern absieht, die gleichen wie daheim, die Frauen genauso schön und die Kinder genauso offen und unbeschwert. Du nimmst ihre Hauptstädte ein und machst dir keine besonderen Gedanken darüber, was weiter kommt und wohin dich dein Weg morgen führen wird. So passierst du die Tschechoslowakei, dann Polen, und fährst schließlich mit deinem Panzer hier ein, ins Land des fortschrittlichen Sozialismus. Zunächst läuft alles bestens – Blitzkrieg, strategisches Genie deiner Generäle, schnelles Vorrücken nach Osten. Sogar den Dnipro überquerst du mehr oder weniger problemlos. Hier aber beginnt der Horror. Plötzlich kommst du in eine Gegend, wo alles verschwindet – Städte, Bevölkerung, Infrastruktur. Sogar die Feinde verschwinden irgendwohin, jetzt würdest du dich sogar über ihren Anblick freuen, aber auch sie sind verschwunden, und je weiter du nach Osten vorrückst, desto banger wird dir ums Herz. Und wenn du schließlich hier angekommen bist, – Ernst beschrieb mit der Hand einen großen Bogen durch die Luft, – ist dir total bange, denn hier, hinter den letzten Zäunen, nur dreihundert Meter vom Bahndamm weg, endet alles, deine Vorstellung vom Krieg, von Europa und von der Landschaft als solcher, denn weiter vorn beginnt endlose Leere – ohne Inhalt, Form und Subtext, eine echte, allumfassende Leere, in der man nirgends Halt findet. Und auf der anderen Seite der Leere liegt Stalingrad. So war er, der Panzerkrieg, Hermann, – schloss Ernst und kippte aus Versehen den Kanister um.
    *
    Abends brachte er mich zum Tor. Er hielt sich schlecht auf den Beinen, sah mich aber verschwörerisch an, offenbar wusste er, dass ihm der Coup mit den Panzern und dem Wein gelungen war, und auch die Geschichte über die Leere war gelungen, ein Samenkorn des Zweifels war mir ins Herz gedrungen, und jetzt brauchte er bloß zu warten, bis es aufging. Ernst klopfte mir auf die Schultern und stieß mich durch das Tor hinaus. Ich schaute mich um. Der Weg zur Straße verschwamm in der Dämmerung, die abendliche Finsternis hatte die Sterne am Tor verschluckt. Plötzlich traf mich ein greller Lichtstrahl ins Gesicht, ich legte schützend die Hand vor die Augen. Nicht weit entfernt stand der schwarze Jeep. Ich ging hin. Der Wein versetzte dieses Abenteuer mit dem Gefühl sorglosen Nervenkitzels, ein Gefühl, wie man es auf dem Riesenrad hat – auch wenn es dir da oben schlecht wird, wird niemand mit dir schimpfen, weil das ja ein Kultur- und Freizeitpark ist und das Kotzen vom Riesenrad wenn auch nicht gerade Kultur, so doch Freizeitgestaltung. Ich trat an den Wagen, öffnete die hintere Tür, stieg ohne Aufforderung ein. Auf der breiten Hinterbank fläzte sich der überraschte Nikolaitsch, offenbar hatte er nicht erwartet, dass ich so fügsam und leicht in den Wagen klettern würde. Aber er fasste sich schnell und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.
    – Hermann! – stimmte er in höflichem Ton an.
    Ich

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