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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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Petrowna von hinten mit dem angespitzten Kopierstift nach ihnen stach.
    *
    Nach ein paar Telefonaten stellte Olga fest, dass alles nicht so einfach war, wie sie geglaubt hatte. Der Ehrenbürger der Stadt lebte gar nicht mehr in der Stadt, sondern befand sich in permanenter medizinischer Behandlung an den einige Dutzend Kilometer entfernten Salzseen. Und es war völlig unklar, in welchem Zustand er war, wogegen genau er behandelt wurde und wie weit die Möglichkeiten der Medizin in seinem konkreten Fall überhaupt reichten. Kurzum, eine dunkle und verworrene Geschichte. Ich dachte an den gestrigen Tag, an die strenge Stimme von Nikolai Nikolaitsch, der, wie sich herausgestellt hatte, Computerexperte war, ich dachte an die tückischen Blicke der Veteranentussen, und plötzlich wurde mir bitter und übel, und zum ersten Mal wollte ich wirklich nach Hause, ins Büro, zu meiner alltägliche Parteiarbeit, grau wie nasser Zucker. Aber ich riss mich schnell wieder zusammen.
    – Was ist – fahren wir? – schlug Olga vor.
    – Wohin? – fragte ich verständnislos.
    – Zum Direktor, wohin denn sonst?
    – Brauchst du mich?
    – An sich nicht, – stellte Olga klar. – Aber in diesem konkreten Fall ist es besser, wenn du dabei bist.
    – Ich fühle mich wie ein Kapitalist. Ich besitze eine Firma, die man mir wegnehmen will. Wie Soros fühle ich mich.
    – Quatsch mir nicht die Ohren voll, – sagte Olga und stand vom Tisch auf.
    *
    Die Straße floss über grüne Hügel und durch Täler, in denen das Sonnenlicht lag wie hineingegossener Gips. Der Asphalt war aufgesprungen, wir fuhren vorsichtig und ohne Hast. Ich hielt mich wie selbstverständlich an Olga fest, ihr T-Shirt blähte sich im Wind, was sie nicht zu bemerken schien. Vereinzelt standen Cafés und Bars am Straßenrand, daneben schwarze verstaubte Laster, in denen Kinder und von der Hitze benommene Nutten schliefen. Olga fuhr mit strengem und konzentriertem Blick, nur einmal hielt sie an, um nach dem Weg zu fragen. Die Nutte, die sie gefragt hatte, stieg nicht mal aus dem Fahrerhäuschen aus, sondern zeigte mit dem nackten Fuß die richtige Richtung. Als wir den nächsten Hügel erklommen hatten, bremste Olga und schaute angestrengt nach Süden. Es könnte Regen geben, sagte sie besorgt, und wir fuhren weiter.
    Einige Zeit später begannen die Kiefernwälder.
    *
    Der Direktor wurde in einem alten Sanatorium behandelt, an dem die Zeit deutliche Spuren hinterlassen hatte. Olga zufolge musste er hier fast mit Gewalt festgehalten werden, weil der Alte die ganze Zeit nach Arbeit und gesellschaftlicher Auslastung verlangte. Er hatte – so Olga weiter – eine heldenhafte Biographie und einen schwierigen Charakter, deswegen war völlig unklar, wie er auf mich reagieren würde. Ich wurde nervös, aber zum Umkehren war es zu spät.
    Das Sanatorium lag in einem spärlichen Wald, umgeben von Salzsümpfen, in denen beleidigt und vernachlässigt die Patienten schwammen. Wir fuhren durchs Tor und bogen zum Hauptgebäude ab. Olga ließ ihren Roller stehen und ging voran. Die Patienten musternd folgte ich. Die Patienten gefielen mir nicht. Sie sahen mich argwöhnisch an, traten zur Seite; tuschelnd zeigten sie mit ihren langen dürren Fingern auf uns. Aus den Salzsümpfen roch es nach Schlamm und Höllenfeuer. Am Empfang kannte man Olga, nickte ihr freundlich zu und teilte ihr mit, dass Hnat Jurowytsch heute schlecht gelaunt war, den ganzen Morgen herumgezickt, schlecht gefrühstückt und beim Mittagessen randaliert hatte, dass er den ganzen Tag nicht auf dem Klo gewesen war und sich insgesamt wie ein Arschloch benahm, genau wie gestern und vorgestern. Man riet uns, auf der Hut zu sein und dem Alten nicht den Rücken zuzukehren, wünschte viel Erfolg und schloss den Schalter. Olga steuerte durch die Flure des Sanatoriums, und ich versuchte Schritt zu halten, wobei ich mich immer wieder nach den Patienten umsah, die aus den Behandlungsräumen herauslugten. Die Wände hingen voller Plakate, die davor warnten, sich in der Sonne zu überhitzen, sich im Wasser zu verkühlen und ungeschützten Sex zu haben. Ungeschützter Sex wurde als nicht gottgefällig dargestellt, als etwas, wonach man exkommuniziert und auf der Parteiversammlung gesteinigt würde.
    Das Zimmer von Hnat Jurowytsch lag im ersten Stock. Olga klopfte energisch an die Tür, öffnete und trat ein. Ich fasste Mut und trat ebenfalls ein.
    – Guten Tag, Hnat Jurowytsch, guten Tag, mein Lieber! – zwitscherte Olga dem

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