Die Erfindung des Jazz im Donbass
und konnte nicht verstehen, wo sie hin war, warum sie aufgehört hatte. Ich warf den Kopf zurück, so dass Himmel und Erde ihre Plätze tauschten, und schaute die Bilder an. Auf der weißen Wand sahen sie dunkel und geheimnisvoll aus. Die Pioniere hatten vornehmlich mit Wasserfarben gearbeitet, fette Linien, die schwer aussahen, als seien sie mit Kuhblut oder farbigem Lehm gezogen. Nach und nach begriff ich, dass die Bilder nicht zufällig gehängt waren, sondern Geschichten bildeten, Stücke von Erzählungen, ähnlich den Gemälden an Kirchenwänden. Die obere Reihe zeigte Männer mit Waffen in den Händen und Tiermasken über den Köpfen. Sie löschten ganze Städte aus, fällten hohe Bäume und hängten Haustiere an Balkonen auf. Sie hackten Händlern die Ohren ab und stachen ihnen die Augen aus, sie führten aus der Wüste schwere Kriegselefanten herbei, die Feuerströme ausstießen und Faltflügel hatten wie Fledermäuse. Auf anderen Bildern errichteten Frauen große Scheiterhaufen und verbrannten Spielzeug und die Kleidung Verstorbener, sie brannten einander seltsame Zeichen in die Haut, die in der Dunkelheit leuchteten und Reiher und Eulen anzogen. Gemeinsam erwählten sie die Schönste unter ihnen, sperrten sie in einen großen Käfig und versenkten sie im Fluss, wo sich am Grund Tritonen und Meeresteufel um sie sammelten, denen sie Lieder sang und Kartentricks zeigte. Auf wieder anderen Blättern, die mit blauem Lehm gemalt waren, gebar eine Frau eine Tochter mit zwei Köpfen, die sofort zu sprechen begann. Und zwar in zwei Sprachen, niemand wusste, was das für Sprachen waren, worauf man das Mädchen in ferne Städte schickte, auf dass sie sich dort verständigen könne. Wo sie auch hinkam, begann entsetzliche Not, die Vögel fielen tot vom Himmel, und halb betäubt krochen die Schlangen aus ihren Löchern, die Männer verloren den Verstand, wenn sie ihr zuhörten, und die Frauen sprangen in den Fluss und schwammen mit der Strömung davon, Bündel mit Kleidern und Kirchenbüchern auf dem Kopf. Das letzte Bild stellte eine Beerdigung dar, eine Prozession aus Kindern und Alten trug zwei offene Särge, in denen niemand lag, und man stritt sich darum, welcher Sarg denn nun zu begraben sei. Drum herum standen Ochsen und Reiher, und über ihren Köpfen, im Himmel, flogen Sterne auf neuen Bahnen. Und weil sie sich nicht einigen konnten, welcher Sarg zu begraben war, trieben die Kinder einen mächtigen müden Ochsen in die Grube und schütteten ihn mit Erde zu, die dicht und klebrig war wie Erdnussbutter. Das Rind stand bis zur Taille in der Grube wie ein freigelegter deutscher Panzer auf seiner Position, aus seinem Maul drangen unbekannte Zeichen, die die Kinder nicht lesen konnten, weil sie nicht zur Schule gingen und Analphabeten waren. Sie standen nur mit ihren Spaten in der Hand daneben und hörten den Tieren zu, die versuchten, ihnen etwas Wichtiges und Bedrohliches mitzuteilen.
*
Als ich die Bilder entziffert hatte, war ich vollends beunruhigt und machte mich auf die Suche. Kaum hatte ich die Türe geöffnet, stand ich im Regen. Ich begann zu rufen, brach aber schnell ab. Wo konnte sie sein? Ich bog um die Ecke und ging zur Nachbarbaracke hinüber. Auf dem Vorplatz sah ich Olga. Sie stand im Regen und wiegte sich auf komische Art unter ihm. Hob die Arme, als wolle sie die Regentropfen fangen, und bot dem Regen ihr Gesicht dar. Leise rief ich sie, doch sie hörte nicht. Plötzlich ging mir auf, dass sie sich im Regen wärmte, dass es draußen jetzt viel angenehmer war als in den eisernen Wänden des Leninzimmers und dass sie bloß hinausgegangen war, um nicht zu frieren, die ausgekühlte Haut den lauen Strömen aussetzte und sich aufwärmte. Jetzt ging sie über den Asphalt und spülte Kälte und Schnupfen von ihrem Körper. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, als schlafwandle sie. Ich musste sie aufhalten, bevor sie aus dem Tor hinaus war und im Wald verschwand. Unmöglich, sie morgen dort zu finden. Leise näherte ich mich ihr und berührte ihre Hand. Sie öffnete die Augen und betrachtete mich aufmerksam. In der Dunkelheit hatten ihre Augen die Farbe des blauen Lehms, mit dem die Pioniere ihre Monster gemalt hatten. Sie betrachtete mich eine Weile, zog dann ihre Hand weg und ging zu den Baracken.
– Kommst du schlafen? – fragte sie zurückblickend.
– Was sonst, – sagte ich, ohne die Augen von ihrem erstarrten Lehmblick zu wenden.
– Und hör auf, mich so anzusehen.
Klar, dass wir
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