Die Erfindung des Lebens: Roman
nur der etwas direktere Ausdruck all dieser Gebärden war und deshalb nicht mehr meinte als: Gott, ich beginne diesen Tag mit der Bitte um Deine Hilfe, ohne diese Hilfe werde ich ihn nicht bestehen. Herr, begleite mich durch den Tag, das ist meine erste und einzige Bitte.
Ich habe den zweizeiligen Text des Gesangs hier mit meinen eigenen Worten umschrieben, um deutlich zu machen, wie ich diesen kurzen Text damals verstand. Ich verstand ihn nämlich nicht als ein Gebet wie jedes andere auch, sondern ich bezog ihn direkt auf mich selbst. O Gott , komm mir zu Hilfe …, besser hätte ich nicht bitten und beten können, Herr, eile mir zu Hilfe … , ja, um den Beistand des Herrn betete ich, da ich dieses Beistands während des weiteren Tags dringend bedurfte.
So bot die frühe Stunde in der Klosterkirche einige der schönsten Augenblicke des Tages überhaupt. Im Winter trat man noch wie erstarrt in die scharfe Eiseskälte der Kirche, im Frühjahr und Sommer erlebte man in ihr aber die Erscheinung des Morgenlichts, das sich sehr allmählich durch die hohen Glasfenster im Chor in den Kirchenraum schob und sich von Minute zu Minute mehr im Altarraum verteilte.
Fühlte ich mich zu Beginn des Tages dort geborgen und sicher, so musste ich in seinem weiteren Verlauf nach anderen Orten Ausschau halten, wo ich dem üblichen Trubel entgehen konnte. Einer dieser Orte war die Küche, in der täglich einige Schüler bei der Vorbereitung der Mahlzeiten aushelfen mussten. Diese Mitarbeit war nicht sehr beliebt, sie galt als mühsam und langweilig, so dass ich als einer, der sich freiwillig zum Küchendienst meldete, jedes Mal zum Einsatz kam.
In der Küche befanden sich etwa zehn Personen, denen unter der Leitung des Chefkochs ganz bestimmte Aufgaben zugewiesen wurden. Die einen kümmerten sich nur um die Suppe, die anderen um das Gemüse oder den Nachtisch, während wir Schüler noch kleinteiligere Aufgaben, wie etwa das Schälen von Zwiebeln oder das Putzen von Salat, zu erledigen hatten. Wenn die Aufgaben verteilt waren, arbeiteten alle still vor sich hin, aus dem Hintergrund kam etwas Radio-Musik, mehr war jedoch nicht zu hören. Auch hier fand ich also Zeit und zumindest etwas mehr Raum als sonst während des Tages üblich, ich konnte abtauchen und meinen eigenen Gedanken nachhängen.
Der dritte Ort schließlich, den ich immer wieder aufsuchte, war die Klostergärtnerei. Auch für diese Arbeit konnten die Schüler sich freiwillig melden, und auch hier gab es meist nicht genug Freiwillige, um die viele Arbeit zu tun. Zweimal in der Woche wurde man hier mit leichten Tätigkeiten beschäftigt, man musste die frisch getriebenen Blumen und die Topfpflanzen begießen oder die Gemüsesteigen mit dem Frischgemüse hinauf in die Klosterküche tragen oder die Rollmatten aus Stroh auf den Dächern der Gewächshäuser ausrollen, um sie vor der Sonne zu schützen.
Schon allein das regelmäßige Aufsuchen dieser drei Fluchtorte sorgte für eine bestimmte Ordnung im Zeitplan einer Woche, diese Ordnung aber war noch gar nichts gegenüber den weiteren, für alle Mitschüler verbindlichen Ordnungen. Solche bis ins Kleinste ausgearbeiteten Zeiteinheiten regelten den Ablauf jedes Tages vom Aufstehen bis in die Nacht, sie gruppierten sich um den Schulunterricht am Morgen, die Mahlzeiten während des Tages und die musikalischen Übungsprogramme am Nachmittag.
Neben der halben Stunde kurz vor Mittag blieb jedem Schüler meist nur die Stunde vor dem Abendessen zur freien Verfügung. Die Stunden nach dem Abendessen bis zum Schlafengehen gegen 22 Uhr waren dagegen entweder den Hausaufgaben oder weiteren Musikproben vorbehalten. Tat sich durch einen Zufall oder eine Fehlplanung einmal eine Lücke im Tageslauf auf, so wurde sie für Sport genutzt. Sport! – gab es etwas Langweiligeres als Internats-Sport und damit einen Sport, der nur darin bestand, mit einigen Mitschülern, deren sportliche Fähigkeiten man bald bis ins Letzte kannte, immer wieder Fußball, Handball und andere Mannschaftssportarten zu spielen, die doch nur dann Spaß machen, wenn man es zumindest dann und wann einmal mit neuen und unbekannten Gegnern zu tun hat?
Das System Internat, wie ich es vorhin genannt habe, bestand also darin, die Schüler ununterbrochen so zu beschäftigen, dass ihnen kaum ein Moment für sich selbst blieb, ja selbst kleinere Pausen waren noch in die Zeitplanung eingebaut, weil man darauf hoffte, dass die Schüler sie für ein Gebet in
Weitere Kostenlose Bücher