Die Erfindung des Lebens: Roman
der Kirche oder die Teilnahme an einer Vesper nutzen würden.
In ihren Grundlagen gingen diese Planungen auf die uralten Regeln des heiligen Benedikt aus dem fünften Jahrhundert nach Christus zurück, die dem Mönchsleben in ganz Europa Form und Ordnung gegeben hatten. Mochten diese Regeln für die halbwilden Abenteurer des frühen Mittelalters richtig gewesen sein und mochten diese lebenslustigen Abenteurer dadurch erst erfahren haben, was man alles in einer Stunde, an einem Tag oder sogar in einer Woche bei geregeltem Dasein tun konnte, so waren sie doch gewiss nicht das Richtige für einen Jungen, der eigentlich nur Fortschritte im Klavierspiel machen wollte und bis zu diesem Zeitpunkt ein relativ freies Leben geführt hatte.
Bisher nämlich hatte ich die Schule nie als eine besonders lästige Pflicht empfunden, ich war am Morgen einige Stunden dort hingegangen, ich hatte am Nachmittag dann und wann ein paar Hausaufgaben gemacht, ansonsten aber war ich von weiteren Anforderungen verschont geblieben. Gerade wegen dieser Freiheiten war ich ja damals der festen Ansicht, das eigentliche Lernen finde nicht in der Schule, sondern außerhalb statt. Ein solches Lernen etwa am Flügel, auf einem Pferderücken oder mit dem Vater in der Natur brauchte man nicht zu planen, denn es ergab sich ganz leicht und einfach von selbst, wenn man dem eigenen Antrieb nur begeistert genug folgte. Bis zum Eintritt ins Internat hatte ich daher nicht einmal eine Uhr gehabt, jetzt aber führte die Empfehlung der Patres, jeder Schüler solle nach Möglichkeit den ganzen Tag eine Uhr tragen, dazu, dass ich auf der Suche nach jeder freien Minute nun auch mit einer Uhr herumlief.
Solche Minuten hatte ich früher täglich für mein Notieren und Schreiben genutzt, jetzt aber wusste ich nicht mehr, wann ich mich auch noch damit hätte beschäftigen können. Ich vernachlässigte also anfänglich meine Kladden und Schreibbücher, bemerkte aber bald, wie stark ich inzwischen doch bereits an das Schreiben gewöhnt und gebunden war. Wenn es nicht täglich stattfand, wurde ich unruhig, es war, als stauten sich die Worte, Sätze und Wendungen in meinem Kopf, und weil ich keine Methode mehr hatte, sie zu speichern, vermehrten sie sich unaufhörlich, wie Wildwuchs. Gregorianischer Gesang, Monstranz, Katakombe - wohin mit all diesen schönen Worten und wohin mit den kleinen Zeichnungen, mit deren Hilfe ich mich an sie erinnerte?
Als ich nicht mehr weiterwusste, nahm ich meine Kladden mit in die Kirche. Wann immer es möglich war, flüchtete ich mich für einen kurzen Aufenthalt in die Bänke oder sogar in einen Beichtstuhl, um dort in aller Eile zu zeichnen und zu notieren. Von Weitem mögen die schwarzen Hefte dabei ausgesehen haben wie Gebetbücher, ihre besondere Farbe war dann jedenfalls der Grund dafür, dass einer der Mönche, der mich einmal bei meiner Schreibarbeit beobachtet hatte, annahm, dass ich fromme Texte abschrieb oder sogar selbst welche erfand. Wegen meiner häufigen Kirchenbesuche und wegen meines Gebetseifers galt ich sowieso als fromm und damit als eine Ausnahme unter den Schülern. War ich fromm, war ich das wirklich? Ich sage gleich noch etwas zu diesem Thema, möchte vorerst aber nur andeuten, dass meine täglichen Kirchenbesuche und die Nähe des Klosterlebens auf mich in einer Weise abfärbten, an die wohl keiner gedacht hatte.
Darüber gleich mehr, zuvor aber – zum besseren Verständnis des Späteren – noch der Versuch eines Resumés: Warum also besuchte ich überhaupt dieses Internat und was brachte mir dieser Besuch?
Ich besuchte das Internat aus einem einzigen Grund: Ich wollte in der pianistischen Ausbildung rasch vorankommen, damit ich schon bald eine Musikhochschule besuchen und ein guter Pianist werden konnte. Anstatt mich auf dieses Ziel zu konzentrieren, verbrachte ich die Tage im Internat jedoch mit vielen kleinen Aufgaben, Pflichten und damit Ablenkungen, die mein eigentliches Ziel immer mehr in den Hintergrund treten ließen. So blieben jeden Tag kaum zwei Stunden für das Üben, von denen ich oft noch einen Großteil mit anderen Schülern und dem Einstudieren von Kammermusik verbrachte.
Gegen den Klavierunterricht war auf den ersten Blick nichts zu sagen, ich hatte einen soliden, jede Woche einmal aus München anreisenden Lehrer, der sich einen Tag lang mit sechs bis acht Klavierschülern beschäftigte, die in die erste Leistungs-Kategorie eingeordnet worden waren. Ich hätte stolz darauf
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