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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Klavierschüler von einem erfahrenen Organisten eingeführt wurden. Orgel üben und spielen zu dürfen, war ein großes Privileg, dieses besondere Privileg aber war nicht der Grund dafür, warum ich mich darum beworben hatte, die Orgel zu spielen.
    Ein Grund war vielmehr die Möglichkeit, für das Üben die Klosterkirche aufsuchen und dort allein einige Zeit verbringen zu dürfen, und ein weiterer Grund war, dass die Stücke der frühen Meister, die auf dem Klavier nicht zur Geltung kamen, auf der Orgel erst ihren eigentlichen Klangcharakter entfalteten. Bachs Toccaten und Fugen auf der Orgel, Händels Orgelkonzerte, die Orgelstücke von Pachelbel und Buxtehude – all das zu spielen, war für einen Jungen meines Alters ein großes Ereignis, für das ich bereitwillig etwas von der Zeit für das Klavierüben dreingab.
    Bald waren mein besonderer Einsatz und meine Freude an diesem Spiel dann so offenkundig, dass man mir sogar erlaubte, auf das Kammermusik-Spiel ganz zu verzichten, das Orgelspiel, hieß es, ersetze in meinem Fall die Kammermusik, ja genau, genau so dachte ich auch und war froh, endlich eine richtige Aufgabe und ein neues Ziel gefunden zu haben.
     
    Dieses neue Ziel brachte mich nun allerdings von meinem früheren und lange Zeit ins Auge gefassten Ziel ab, so dass es nun nicht mehr allein der Pianistenhimmel war, der mir vorschwebte, sondern auch das Dasein als Organist in einer so beeindruckenden Kirche wie etwa dem Dom zu Köln.
    Der Dom zu Köln und die anderen schönen Kirchen, die ich in Köln besucht hatte – nein, ich hatte sie keineswegs vergessen, sondern ich dachte im Gegenteil sehr häufig an sie. Durch meine Übersiedlung in das Internat hatte ich mich zwar äußerlich von ihnen entfernt, rückte ihnen innerlich aber immer näher.
    Denn ohne dass ich die Veränderungen deutlich bemerkte oder gar begriff, begann meine sehr besondere, von der Musik geleitete und geprägte Frömmigkeit sich im Internat zu entwickeln. Diese Frömmigkeit hatte nichts mit bestimmten Glaubensinhalten zu tun, sie war auch keine blinde Hysterie oder gar Frömmelei, nein, sie wurde vielmehr zu so etwas wie einer Lebensform, die mich, ohne dass ich es, wie gesagt, deutlich bemerkte, von Tag zu Tag mehr anzog.
    Dabei war natürlich von großer Bedeutung, dass ich die Vorbilder für eine solche Lebensform direkt vor Augen hatte. Es waren diejenigen Mönche, die ich besonders schätzte und häufiger beobachtete als andere und von denen ich daher bestimmte Verhaltensweisen übernahm. Einige dieser Verhaltensweisen hatten mit einem bestimmten Ernst und einer besonderen Hingabe an bestimmte Aufgaben zu tun, andere mit einer beeindruckenden Gründlichkeit, wieder andere mit einer starken Zurückhaltung, die sich in einer gewissen Scheu oder in einer Art Schamhaftigkeit ausdrückte.
    Besonders dieses scheue und gleichsam schamhafte Verhalten verstand ich gut, es bestand vor allem darin, auf allzu laute, vulgäre oder penetrante Worte zu verzichten und sich überhaupt so zu verhalten, dass man nicht viel von sich preisgab. Ich hatte von anderen Orden gehört, die ihren Mitgliedern vorschrieben, wenig oder gar nicht zu sprechen, diese Nachricht hatte mich elektrisiert und mir bewiesen, dass ich auf dem richtigen Weg war, wenn ich mich verstärkt dem Orgelspiel widmete und das Sprechen auf das Notwendigste beschränkte.
     
    Von dieser Entwicklung her kann man sich nun vorstellen, was mit mir geschah: Allmählich, aber mit den Wochen und Monaten immer mehr, wurde ich, ohne dass meine Umgebung diese schleichende Veränderung bemerkte, wieder zu einem meist schweigenden, ja manchmal sogar sprachlosen Kind. Ich hörte auf zu notieren, ich zog mich ganz auf mich selbst zurück, schließlich nannte man mich den Stillen .
    Die Bezeichnung war gar nicht einmal böse gemeint, sondern hatte eher den Charakter einer sachlichen Feststellung. Ich war eben der Stille , so wie es auch den Müden oder den Blassen gab. Solche Bezeichnungen erweckten den Anschein, als handelte es sich um ein paar liebenswerte Spleens oder Eigenheiten, denen man keine weitere Beachtung schenken müsse.
     
    In meinem Fall aber war diese Nichtbeachtung ein gravierender Fehler, denn ich verwandelte mich mit den Wochen und Monaten wieder in jenes einzelgängerische und isolierte Kind zurück, das ich vor vielen Jahren einmal gewesen war. Diesem Kind hatte man die Eltern genommen, ja man hatte die Verbindung zu seinen Eltern mit Gewalt unterbrochen und zumindest

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